Mathematisierung der Natur von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert

Hier eine kurze Übersicht über die Geschichte die mathematischen Naturauffassung von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert. In den nachfolgenden Beiträgen werde ich das  genauer darlegen.

Neuzeitlicher Atomismus

Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde der Atomismus zu einer fast allgemein anerkannten wissenschaftlichen Lehre, die auf verschiedenste Weise variiert wurde. Unter anderem Gassendi, Galilei, Boyle und Newton vertraten sie. Der neuzeitliche Atomismus führt alle Naturerscheinungen auf kleinste Materieteilchen zurück, die sich alleine durch quantitativ-geometrische Eigenschaften auszeichnen. Alles Qualitative, was normalerweise Gegenstand unserer Wahrnehmung ist, soll alleine durch Ortsbewegungen dieser Partikel erklärbar sein. Der Atomismus unterscheidet somit zwischen einer Welt der alltäglichen Wahrnehmung, die eine Welt des Scheins ist, und einer wahren Realität der kleinsten Teilchen, die nur quantitativ-geometrisch ist. Damit ist der Atomismus ein besonders deutliches Beispiel für die geometrisch-quantitative Naturauffassung. Es zeigt aber auch, dass diese Naturauffassung sich nicht nur darin erschöpfte, die sinnlich erfahrbaren Naturerscheinungen mathematisch zu beschreiben, sondern eine die Empirie überschreitende Metaphysik war. Immerhin sind die Atome ja – zumindest mit den Mitteln der damaligen Wissenschaftler – nicht direkt erkennbar. Das innerste Wesen der Natur wird als quantitativ-geometrisch angesehen.

Galilei

In Galileis Schriften findet man immer wieder Stellen, in denen er offenbar das ideale Quantitativ-Geometrische mit der realen materiellen Welt gleichsetzt. Beispielsweise glaubt er geometrisch beweisen zu können, dass der ideale geometrische Raum dreidimensional sein muss. Das gilt ihm aber ohne Weiteres auch als Beweis dafür, dass der reale, physische Raum dreidimensional ist. Galilei beweist, dass eine endliche geometrische Strecke unendlich viele geometrische Punkte hat (was stimmt), und schließt daraus, dass ein Stück eines realen Festkörpers aus unendlich vielen Atomen bestehen müsse (was fraglich ist). Galilei beweist, dass eine ideale Kugel eine ideale Fläche genau an einem Punkt berührt, und deswegen müsste auch eine reale Kugel eine reale Fläche genau an einem realen Punkt berühren. Und wenn es doch nicht so sein sollte, dann ist das einfach zu vernachlässigen. Galilei argumentiert, dass man eine ideale schiefe Ebene theoretisch beliebig nah an eine Horizontale annähern kann, so dass eine ideale Kugel beliebig langsam rollen würde. Daraus schließt er, dass reale Anfangsgeschwindigkeiten von beschleunigten Bewegungen beliebig langsam sind.

All diese Beispiele zeigen, wie Galilei die materielle Wirklichkeit mathematisiert hat: Die Dinge sind ihrem Wesen nach geometrisch-quantitativ und die mathematische Struktur ist der Natur immanent. Und sollte in einem konkreten Fall die materielle Realität mit der geometrisch-quantitativen Idealisierung nicht perfekt übereinstimmen, dann ist das ein Messfehler oder beruht auf unwesentlichen Störfaktoren oder ist aus einem anderen Grunde belanglos. Das ist exakt der Unterschied zur bisherigen aristotelischen Naturphilosophie, die das Wesen der Naturdinge im Kern nicht-mathematisch verstand. Deswegen muss auch eine Naturerkenntnis bei Aristoteles logisch-begrifflich sein, wohingegen sie bei Galilei mathematisch sein muss.

Ein Musterbeispiel für eine derartige neue, mathematische Naturphilosophie gibt Galilei im dritten und vierten Kapitel der Discorsi. Darin behandelt er gleichförmige und beschleunigte Bewegungen, wobei offensichtlich Beobachtungen oder Experimente, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielen. Stattdessen ist der Text aufgebaut wie ein klassisches geometrisches Lehrbuch: Definitionen und Axiome werden gefolgt von geometrisch bewiesenen Theoremen.

Descartes

Im Jahre 1644 veröffentlichte René Descartes (1596-1650) seine Principia Philosophiae, womit er die Gesamtheit aller Naturphänomene erklären wollte. Man kann sagen, dass die Mathematisierung der Natur bei ihm ihren Höhepunkt erreicht hat. Ein materieller Körper hat nicht nur eine räumliche Ausdehnung. Nein, er ist sie wesensmäßig. Descartes treibt die Identifikation von materieller Welt und idealer Geometrie auf die Spitze.

Newton

Isaac Newton (1643-1727) veröffentlichet 1687 sein bahnbrechendes Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, kurz Principia, womit er der neuzeitlichen Mechanik ihre klassische Form gab. Er glaubt für seine Theorie den Begriff einer „absoluten, wahren und mathematische Zeit“ zu benötigen, die er der „relativen, scheinbaren und allgemein üblichen Zeit“ gegenüberstellt. Die relative Zeit misst man anhand von regelmäßig wiederkehrenden Perioden, wie die Schwingungen eines Pendels. Man kann sich aber nie sicher sein, dass solche Perioden perfekt gleich lang sind. Das wesentliche Merkmal der absoluten, mathematischen Zeit ist, dass sie vollkommen kontinuierlich fließt. Ein solches Kontinuum glaubt er, wie ich meine, vor allem deswegen zu benötigen, damit die Differentialrechnung anwendbar ist. Das zeigt aber, dass die Mathematik für ihn keine bloße Methode der Beschreibung ist, sondern dass er die mathematische Darstellung der Zeit mit der realen, physischen Zeit identifiziert. Auf ähnliche Weise setzt Newton einem „absoluten, mathematischen Raum“ einen „relativen, scheinbaren Raum“ gegenüber. Offenbar vertrat Newton eine mathematische Naturauffassung.

Analytische Mechanik im 18. Jahrhundert

Bemerkenswert ist, dass über lange Zeit unter den Naturwissenschaftlern ein so starker Konsens bezüglich einer solchen mathematischen Naturauffassung bestand, dass es ihnen gar nicht auffiel, dass damit auch eine bestimmte Art von Metaphysik verbunden ist. Vielmehr glaubten viele, entweder sich strikt an die beobachtbaren Erfahrungstatsachen zu halten oder ihre wissenschaftlichen Prinzipien streng rational herleiten zu können. Ich glaube auch, dass dieser stillschweigende Konsens einen wichtigen Beitrag dazu leistete, dass es Anfang des 18. Jahrhunderts zu einer einvernehmlichen Verständigung von Newtonianern, Cartesianern und Leibnizianern kam. Diese drei Richtungen hatten jeweils eigene naturphilosophische Ansichten, ihnen war aber gemeinsam der (metaphysische) Glaube an eine mathematisierte Wirklichkeit.

Kritik an der mathematischen Naturauffassung

Natürlich gab es auch Kritik an dieser Auffassung. Beispielsweise forderten die französischen Aufklärer Diderot und d’Alembert, man solle sich bei der Naturwissenschaft streng an die Naturphänomene halten und alle die Empirie überschreitenden Begriffe vermeiden. Eine weitere Kritik kam vom deutschen Idealismus und von den sogenannten Vitalisten.

Mechanismus

Die mathematische Metaphysik wurde aber vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Form des Mechanismus zu einer dominierenden Weltanschauung gerade unter Naturwissenschaftlern. Man glaubte, dass man die gesamte materielle Wirklichkeit als eine große Ansammlung von Materiepunkten auffassen kann, zwischen denen bestimmte Kräfte wirken, so dass letztlich alles auf die newtonschen Gesetze der Mechanik zurückführbar ist. Das Ziel war, dass man alle übrigen Naturwissenschaften, wie die Chemie oder die Physiologie, letztlich mechanistisch erklären kann.

Auflösung der mathematischen Metaphysik

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen einige Wissenschaftler die metaphysischen Annahmen der Mechanismus zu kritisieren, dazu zählen C. Neumann, Kirchhoff, E. Mach und L. Boltzmann. Erst auf diese Kritik hin entstand die moderne Auffassung, dass die Mathematik nur der bloßen Beschreibung der Naturphänomene dienen soll. Dieses moderne Verständnis von der Mathematik in der Naturwissenschaft ist somit eigentlich relativ spät entstanden. Und es ist ohne Zweifel ein Anachronismus zu behaupten, dies hätte bereits Galilei so gesehen. Faktisch ist Galilei einer der Mitbegründer einer mathematischen Metaphysik, die dann gerade Ende des 19. Jahrhunderts überwunden wird.

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