Auf dem Weg zum Empirismus

Ich habe in den vorhergehenden Beiträgen den Übergang von der aristotelischen Wesensphilosophie zur neuzeitlichen Mathematisierung der Natur politisch interpretiert.

Die antike Philosophie steht gewissermaßen für die aristokratische Einstellung, nur zum Zeitvertreib und ohne nützliches Ziel wissenschaftliche Erkenntnisse anzustreben. Die mathematische Auffassung der Natur hingegen ist näher an dem „funktionalen Bauplan“ der Dinge interessiert, und somit, wenn man so will, demokratischer. Dies lässt sich in noch stärkerem Maße vom Empirismus sagen. Von Anfang an hatte der Empirismus den Geruch der Rebellion an sich. Er richtete sich gegen Tradition und Autorität, forderte dazu auf, sich davon zu befreien. Stattdessen sollte man selbst beobachten, selbst nachdenken, kritisch den eigenen Verstand einsetzen. Empiristen wendeten sich auch vehement gegen eine Wissenschaft zum erbaulichen Selbstzweck. Sie sollte vielmehr nützlich sein und ausdrücklich die Lebensbedingungen des Menschen verbessern. Und das nicht im Rahmen eines esoterischen Zirkels um einen alle dominierenden Meister, sondern als groß angelegtes Wissenschaftsprojekt, an dem eine Vielzahl von Wissenschaftlern offen und gleichberechtigt über Generationen hinweg zusammenarbeiten.

Es waren nicht so sehr die konkreten empiristischen Theorien, wie sie z.B. Francis Bacon oder John Locke oder J.S. Mill entworfen haben, die die neuzeitliche Wissenschaft voranbrachten. Faktisch haben sie nämlich eher wenig bewirkt.  Bacons neue Induktion wurde nie angewendet, Lockes Analyse der eigenen Wahrnehmung erwies sich als Sackgasse, Mills Induktionslogik erlaubt keine zuverlässigen Schlüsse. Wichtig war vielmehr, dass sie die genannte kritische und aufklärerische Grundeinstellung propagierten, die heute geradezu zum Markengzeichen wissenschaftlichen Denkens geworden ist.

Der erste Empirist in der Philosophiegeschichte war Francis Bacon. Kein Denker vor ihm rebellierte wie er gegen das überlieferte aristotelische Wissenschaftsmodell. Aber auch Bacon ist nicht einfach so vom Himmel gefallen. Der Empirismus wurde vielmehr vorbereitet von einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, die in der Renaissance stattfand.

Die Explosion des Erfahrungswissens in der frühen Neuzeit

Im Mittelalter lebten die Europäer in einer vergleichsweise übersichtlichen Welt. Der Handel vollzog sich in der Regel auf bekannten Routen. Viel Wert wurde auf tradiertes Wissen und Autoritäten gelegt. Mediziner lasen bei Galen nach, Botaniker bei Theophrast, Astronomen zogen den Almagest heran und für Naturphilosophen war Aristoteles die große Autorität. Natürlich machte man auch damals eigenen Beobachtungen. Um die eigene Position zu stärken oder eine gegnerische Theorie zu widerlegen bevorzugte man aber einerseits den Verweis auf Autoritäten und andererseits die Mittel der logischen Deduktion, der Begriffsanalyse und des rationalen Argumentierens.

Das änderte sich mit Beginn der frühen Neuzeit. Es kam zu einer regelrechten Explosion des empirischen Wissens. Seeleute verließen die bekannten Routen und begaben sich auf Seewege, die noch in keinen Karten eingetragen waren. Man entdeckte neue Länder, Kulturen, sowie fremde Flora und Fauna, von denen die alten Schriften nichts wussten. Die Mediziner sezierten nun Leichen, um mit eigenen Augen die Anatomie des Menschen zu studieren und entdeckten Fehler in den Lehren Galens. Naturphilosophen begannen, die Aussagen des Aristoteles mittels eigener Experimente zu überprüfen. Auf einmal wurde das Erfahrungswissen in bisher nie dagewesener Weise erweitert und stellte bisherige Theorien und Autoritäten in Frage. Aber auch Disziplinen, die uns heute eher suspekt erscheinen, erweiterten das „Wissen“, wie die Alchemie, die Magie und die Astrologie. Außerdem wurden die handwerklichen Fähigkeiten und Kenntnisse aufgewertet. In der Antike galt das Handwerk noch als eines freien Menschen unwürdig, was sich im Laufe der frühen Neuzeit änderte.

Immer weniger vertraute man darauf, was theoretisch in Büchern stand oder durch Autoritäten überliefert worden war. Stattdessen lernte man, die Welt mit eigenen Augen zu sehen. Außerdem verstanden die Europäer zunehmend, wie nutzbringend Wissen sein kann. All dies bereitete den Empirismus in Europa vor.

Seefahrt

Ab den 1420er Jahren begann Portugal systematisch eine Flotte aufzubauen mit dem Ziel, einen Seeweg nach Indien zu finden. 1427 entdeckten die Portugiesen die Azoren. 1488 erreichten sie das südlichste Ende Afrikas. Schließlich gelangte Vasco da Gama 1498 bis an die Westküste Indiens. Auf der Suche nach einem Seeweg nach Indien überzeugte Christoph Kolumbus die Spanier, in Richtung Westen zu segeln, und entdeckte 1492 Amerika. Von 1519 bis 1522 segelte Ferdinand Magellan einmal um den Globus, wobei er unter anderem die nach ihm benannte Magellan-Straße am südlichen Ende Südamerikas entdeckte.

Unterstützt wurden diese Entdeckungen durch ein paar technische Erfindungen. Die hanseatische Kogge wurde zur Karavelle weiterentwickelt, ein Schiffstyp, der besonders gut für lange Reisen geeignet ist. Spätestens seit dem 14. Jahrhundert kannten europäische Seefahrer den Kompass mit Magnetnadel. Martin Behaim (1459-1507) erfand den Jakobsstab, mit dessen Hilfe man die Höhe der Sonne und anderer Planeten berechnen konnte. Auch die Erfindung des Schießpulvers war für die Entdecker wichtig, da sie mit ihren Handfeuerwaffen und Kanonen den Eingeborenen gegenüber einen militärischen Vorteil hatten. Auch die immer besser werdenden Karten halfen. Andererseits profitierte die Kartografie natürlich von den Entdeckungsreisen.  Die europäischen Seefahrer stießen auf fremde Völker, fremde Sprachen, fremde Tiere und Pflanzen, so trugen sie dazu bei, zuhause das Bild von der Erde und ihren Kulturen zu verändern.

Offenbar wurde die europäische Seefahrt einerseits durch technisches und theoretisches Wissen überhaupt ermöglicht, andererseits hat sie dazu beigetragen, weiteres Erfahrungswissen zu gewinnen. Ferner wurden bekannte Grenzen überschritten und bisheriges Wissen wurde revidiert. Man merkte z.B., dass die Seekarten und das alte Bild der Erde falsch bzw. unvollständig waren.

Anatomie

Noch im Mittelalter war es verpönt, als Mediziner eigene anatomische Forschungen zu betreiben. Stattdessen vertraute man darauf, was der griechische Arzt Galen (129-216) in seinen umfangreichen Schriften gesagt hatte. Doch nach und nach schwand das Vertrauen in die überlieferte Lehre und die Mediziner wollten mit eigenen Augen überprüfen, wie der menschliche Körper aufgebaut ist. Zögerlich begannen Gelehrte, wie z.B. Mondino de Luzzi (1270-1326), damit eigene Sektionen vorzunehmen. In Deutschland fand die erste öffentliche Sektion 1480 an der Universität Köln statt. Auch Künstler wie Michelangelo, Raffael, Dürer und Leonardo da Vinci studierten sorgfältig den menschlichen Körper. Der Flame und in Padua lehrende Andreas Vasalius (1514-1564) gilt als Begründer der modernen Anatomie. Er veröffentlichte 1543 sein reich bebildertes Buch De humani corporis fabrica. In Deutschland trieb Werner Rolfinck (1599-1673) die anatomische Forschung voran. Schließlich erkannte 1628 der Engländer William Harvey (1578-1657) den Blutkreislauf im menschlichen Körper.

Die frühneuzeitlichen Anatomen gaben nichts darauf gab, was irgendwelche Autoritäten behauptet hatten; sie wollten vielmehr alles selbst sehen und ihre eigenen Erfahrungen machen. So wurden bislang tradierte Lehrmeinungen über den menschlichen Körper revidiert.

Heilkunde, Botanik und Tierkunde

Bis ins Mittelalter dominierten Aristoteles und sein Schüler Theophrast (370-285 v.Chr.) die Botanik. Johann Prüß (1447-1510) veröffentlicht 1497 den Garten der Gesundheit, in dem er über 500 Pflanzen, sowie Tiere und einige Mineralien beschreibt und abbildet. Um möglichst naturgetreue Abbildungen bemühten sich die sogenannten Väter der Botanik Otto Brunfels (1488–1534). Hieronymus Bock (1498–1554) und Leonhard Fuchs (1501–1566) „Historia stirpium“.

Konrad Gesner (1516-1564) veröffentlichte eine vierbändige Naturgeschichte der Tiere. Das Werk enthält Fakten über die damals bekannten Tiere, unter anderem deren Vorkommen, ihre Bewegungsart, typische Krankheiten und wie sie genutzt werden können.

Der Botanik-Professor aus Padua Prospero Alpini (1553–1617) veröffentlichte 1593 ein bahnbrechendes Werk mit 73 Abbildungen und genauen Beschreibungen von exotischen Pflanzen wie Dattelpalme, Kaffeestrauch, Bananenpflanze und Baobab (Affenbrotbaum). Er studierte die Pflanzenwelt Ägyptens während eines dreijährigen Aufenthalts in Kairo.

Alchimie

Seit dem Mittelalter versuchten Alchimisten in Europa Methoden zu finden, um unedle Metalle in Gold oder Silber zu verwandeln. Dabei setzten sie unter anderem Destillations- und Extraktionsapparate ein. Die Alchemie hatte zwar auch eine theoretische Komponente, die auch mit Magie und Astrologie zu tun hatte. Die Alchemisten waren aber vor allem Experimentatoren. In jedem Fall wurde ein vielfältiges Erfahrungswissen über verschiedene Materialien gewonnen. Sie entdeckten neue Medikamente, nützliche Verfahren für das Hüttenwesen, erfanden das Schießpulver, das Porzellan, sowie phosphoreszierende Stoffe. Als erstes Chemielehrbuch im modernen Sinne gilt die Alchemia von Andreas Libavius (1555-1616). Pionierarbeit leisteten ferner Joachim Jung (1587-1657) und Robert Boyle (1626-1691), letzterer mit seinem Werk Der skeptische Chemiker (1663).

Astrologie und Astronomie

Bis ins 17. Jahrhundert war die Astronomie eng verbunden mit der Astrologie. Von den Sternen versprachen sich die Menschen damals Aufschluss über irdische Ereignisse.

Beobachtungen und Experimente in den Naturwissenschaften

Manchmal kann man lesen, dass Galilei der Begründer der Experimentalphysik sei, dass er überhaupt der erste gewesen war, der systematisch und messend experimentierte. Das ist sicher nicht richtig. Stattdessen lag das Experimentieren damals sozusagen im Zeitgeist. Viele Mathematiker und Naturphilosophen ersannen sich Experimente, Messverfahren und realisierten sie. Bereits Giuseppe Moletti (1531-1588) oder der Flame Simon Stevin (1548-1620) haben nachweislich vor Galilei Fallversuche ausgeführt. Der Jesuit und Mathematiker Bonaventura Cavalieri (1598-1647) veröffentlichte seine Erkenntnisse darüber, dass die Flugbahnen von Projektilen Parabeln sind, klar vor Galilei. Auch der Mathematiker Niccolo Tartaglia (1499-1557) experimentierte – fast 100 Jahre vor Galilei – mit Geschossen und stellte aufgrund seiner Versuche fest, dass man die größte Reichweite bei einem Winkel von 45°erzielt. Der Engländer William Gilbert (1544-1603) führte erstaunliche und damals viel beachtete Experimente an Magneten durch. Galileis eigener Vater, Vincenzo Galilei (1520-1591), überprüfte die akustischen Aussagen des Pythagoras, indem er an Saiten experimentierte.

Robert Hooke (1635-1702) machte zahlreiche Beobachtungen mit einem Mikroskop und entdeckte eine Welt, die so klein ist, dass sie den Menschen bislang unerkannt blieb. Zeichnungen davon, was man durch ein Mikroskop sehen kann, veröffentlichte er 1665 in seinem Buch Micrographia: z.B. eine stark vergrößerte Nadelspitze, einen Kork, einen Schimmelpilz, das Facettenauge einer Fliege, etc. Er verwendete auch als erster den Begriff „Zelle“. Hooke wurde von der Royal Society beauftragt, systematisch Wetteraufzeichnungen vorzunehmen, um die Wettervorhersage zu verbessern. Dazu erfand er verschiedene meteorologische Instrumente, wie ein Barometer, ein Hygrometer oder einen Windmessgerät.

Viele Philosophen, vorneweg Aristoteles, behaupteten, dass es kein Vakuum geben könne. Otto Guericke (1602-1686) wies jedoch experimentell nach, dass in der Natur Vakua vorkommen können. Er erfand die Kolbenvakuumluftpumpe und die Luftwaage. Er gilt als Begründer der Vakuumtechnik. Unter anderem konnte er nachweisen, dass Licht durch ein Vakuum durchdringt, nicht aber Schall.

Der Däne Ole Römer entdeckte durch sorgfältige Beobachtung der Jupitermonde, dass Licht sich mit einer endlichen Geschwindigkeit ausbreitet (ca. 300.000 km/s).

Der Däne Nicolaus Steno (1638-1686) und der Schotte James Hutton (1726-1797) gelten als Gründungsväter der Geologie.

Beginnender Empirismus

Während bislang Vernunft, rationales Argumentieren und Deduktion als Königsweg zum Wissen galten, führten all diese Entwicklungen zu einer Aufwertung der sinnlichen Erfahrung. Der zaghaft einsetzende Empirismus hatte anfangs eine Stoßrichtung gegen überliefertes, autoritätsgläubiges, bloß theoretisches Büschelwissen, das als einschränkend und letztlich nutzlos empfunden wurde. Exemplarisch sei hier Galilei zitiert[1]:

„Sagr.: […] Ich befand mich eines Tages im Hause eines in Venedig sehr angesehen Arztes, wohin öfters Leute kamen, teils ihrer Studien wegen, teils aus Neugier, um eine Leichensektion von der Hand eines ebenso wahrhaft gelehrten, wie sorgfältigen und geschickten Anatomen ausführen zu sehen. Diesen Tag nun geschah es, dass man den Ursprung und den Ausgangspunkt der Nerven aufsuchte, welches eine berühmte Streitfrage zwischen den Ärzten aus der Schule des Galen und den Peripatetikern ist. Als nun der Anatom zeigte, wie der Hauptstamm der Nerven, vom Gehirn ausgehend […] sich durch das Rückgrat erstreckt und durch den ganzen Körper verzweigt […], wendete er sich an einen Edelmann, der ihm als Peripatetiker bekannt war […] mit der Frage, ob er nun zufrieden sei und sich überzeugt habe, dass die Nerven im Gehirn ihren Ursprung nehmen und nicht im Herzen. Worauf unser Philosoph, nachdem er ein Weilchen in Gedanken dagestanden, erwiderte: Ihr habt mir das alles so klar, so augenfällig gezeigt – stünde nicht der Text des Aristoteles entgegen, der deutlich besagt, der Nervenursprung liege im Herzen […].“

Man muss hier allerdings aufpassen. Derartige Geschichten werden heutzutage gerne als Beleg dafür genommen, dass um 1600 herum mit Galilei das moderne Verständnis einer empirischen Wissenschaft entstand. Richtig ist, wie gesagt, dass die europäische Kultur inzwischen Erfahrungswissen höher bewertete als es noch in der Antike und im Mittelalter der Fall war.  Der neuzeitliche Empirismus ist jedoch zunächst noch keine explizite Philosophie oder ein ausgearbeitetes wissenschaftliches Verfahren – das wird dann mit Francis Bacon kommen. Er ist eher eine neue Geisteshaltung, die sich durch folgende Maximen ausdrücken lässt:

  • Prüfe die Dinge vorurteilsfrei mit eigenen Augen oder durch eigenes Nachdenken!
  • Halte nur das für richtig, was du selbst erfahren oder eingesehen hast!
  • Erweitere immerzu dein Wissen!
  • Wende dein Wissen nutzbringend praktisch an!

Wenn es aber darum ging, was eine wissenschaftliche Theorie im eigentlichen Sinne ist, dann orientierten sich viele Gelehrten um 1600 nach wie vor an dem Wissenschaftsmodell, das Aristoteles in seiner Zweiten Analytik beschrieben hatte. Auch das kann man exemplarisch an Galilei sehen. Wie ich später noch zeigen werde, hielt Galilei seine neue Naturwissenschaft für unumstößlich wahr, gründete sie auf Prinzipien, die der Vernunft evident sein sollen und durch ein paar konkrete Beispiele einsichtig gemacht werden sollen, und deren Lehrsätze deduktiv hergeleitet werden. Nur mit dem Unterschied, dass Galilei jetzt die Mathematik für seine Deduktionen verwendet, was Aristoteles früher abgelehnt hatte. Und obwohl er sich darüber lustig machte, dass manche Zeitgenossen sich lieber an die Autorität des Aristoteles hielten, als daran, was man mit eigenen Augen gesehen hat, leugnete Galilei selbst Erfahrungstatsachen einfach ab, wenn sie ihm nicht ins Konzept passten.

Galilei ist damit ein Beispiel für eine Haltung, die ich asymmetrischen Empirismus nennen möchte, und die man auch bei anderen frühneuzeitlichen Wissenschaftlern finden kann. Demnach werden erstens Erfahrungswissen und Experimente, die mit der eigenen Theorie im Einklang stehen, durchaus als Beweis für deren Richtigkeit genommen, insbesondere wenn es sich um korrekte Prognosen, praktische Anwendungen und technische Verfahren handelt. Zweitens kann man Erfahrungswissen und Experimente, die mit einer gegnerischen Theorie im Widerspruch stehen, als Beweis für deren Falschheit genommen. Soweit so gut. Asymmetrisch wird diese Haltung aber bezogen auf Erfahrungswissen und Experimente, die mit einer eigenen Theorie im Widerspruch stehen, denn dies wird durchaus nicht als Beweis für die Falschheit der eigenen Theorie akzeptiert. Derartige widersprechende Erfahrungen werden entweder ganz ignoriert oder als bedeutungslos abgetan, als Messfehler, Sinnestäuschung etc. Den Erfahrungen wird also nur solange Beweiskraft zugeschrieben, wie sie mit der eigenen Theorie übereinstimmen, andernfalls werden sie geleugnet.

Man mag einwenden, dass ein solcher asymmetrischer Empirismus absurd und unter der Würde eines intelligenten Menschen ist. Tatsächlich aber ist diese Haltung weit verbreitet und sehr menschlich. Die meisten Anhänger bestimmter Diäten ticken so. Man muss nur die Diät X beachten, so das Versprechen, und man bleibt schlank und lebt gesünder. Wer daran glaubt, argumentiert in der Regel so: „Seitdem ich auf diese Weise meine Ernährung umgestellt habe, fühle ich mich besser und ich habe so und so viel Gewicht abgenommen.“ Die eine, persönliche Erfahrung wird unversehens als Beleg für die Richtigkeit der Theorie verwendet. Vielleicht nennt man noch weitere Beispiele von Bekannten oder Freunden, bei denen die Diät auch positiv angeschlagen hat. Solche Erfahrungen hingegen, bei denen jemand entweder gar keine Wirkung erzielt hat oder sogar sich schlechter dabei gefühlt hat, werden einfach ignoriert oder wegerklärt. So verhalten sich auch oft Anhänger von Fitness-Theorien, von gewissen medizinischen Lehren oder, wenn es um Vorurteile bestimmten ethnischen Gruppen gegenüber geht. Unser menschliches Miteinander ist geprägt von einer Fülle von Beispielen asymmetrischen Empirismus.

Dieser asymmetrische Empirismus ist eine Haltung, über die man sich in der Regel nicht im Klaren ist, Sicher ist sie keine explizite, philosophische Lehre. Das beginnt tatsächlich erst mit Francis Bacon. Bacon war sich übrigens darüber im Klaren, dass die Menschen zu einem asymmetrischen Empirismus neigen; so lässt sich seine Lehre der sogenannten Idole verstehen. Und er versuchte durch seine neue induktive Methode derartigen Asymmetrien systematisch entgegenzutreten.

[1] Galilei: Dialog über die Weltsysteme, S. 112 f.

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