Francis Bacon und die Induktion
Der Engländer Francis Bacon (1561-1626) war ein Zeitgenosse Galileis und bekämpfte wie dieser die traditionelle, aristotelisch geprägte Philosophie seiner Zeit.
Hier eine Auswahl seiner Werke:
- De dignitate et augmentis scientiarum, dt. Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften, 1605.
- Nova Atlantis, geschrieben 1614, veröffentlicht 1626. Darin beschreibt er eine Utopie, in der ein Gruppe von weisen Männern, die zugleich Wissenschaftler und Priester sind, das Wissen hüten. Sie bilden eine Art wissenschaftliche Akademie.
- Novum Organum, erschienen 1620, das die ersten beiden Bücher seines unvollendet gebliebenen Werkes Magna Instauration Dt.: Neues Organon, Felix Meiner Verlag 1990, Teilband I und II.
- Sylva Sylvarum, 1627.
Wie ich oben versucht habe zu zeigen, lag der Empirismus seit der Renaissance gewissermaßen in der Luft, da sich das empirische Wissen stark erweiterte. Damit erfuhr die Empirie auch unter Gelehrten eine Aufwertung, und das theoretische Bücherwissen wurde als zunehmend beschränkt und steril empfunden.
Bacon formulierte seine Philosophie in einer Zeit, als die aristotelische Philosophie gerade an Glaubwürdigkeit verlor. Aristoteles wurde verbunden mit einem wirklichkeitsfernen, bloß begrifflichen Theoretisieren, das mit der gewaltigen Erweiterung des Erfahrungswissens im Laufe der frühen Neuzeit nicht mithalten konnte. Bacon hingegen war der erste Philosoph, der darauf eine passende Antwort hatte. Er lieferte den wissenschaftstheoretischen Rahmen erstens für das ständig wachsende Erfahrungswissen, zweitens überhaupt für eine Aufwertung der sinnlichen Erfahrung gegenüber der logischen Deduktion und drittens gegen nutzloses, bloßes theoretisches Bücherwissen. So wie Aristoteles ein Symbol für fruchtloses Theoretisieren geworden war, so wurde Bacon ein Symbol für eine moderne, an der Empirie orientierten und nutzenbringenden Naturwissenschaft.
Der erste explizite Empirismus richtet sich gegen Aristoteles
Auch wenn der Empirismus, wie gesagt, mehr oder weniger in der Luft lag, stellte erst Bacon eine ausdrückliche Philosophie des Empirismus auf. Und tatsächlich schlug er einen Weg ein, den kein Denker vor ihm gegangen war. Seit Parmenides, über Platon und Aristoteles stellten die Philosophen immer wieder das theoretisch Erschlossene über die Empirie. Bei Bacon ist es jetzt das erstmals umgekehrt. Konsequent stellt er Erfahrungstatsachen über Theorie und Deduktion.
Aristoteles‘ logische und wissenschaftstheoretische Schriften werden bekanntlich als Organon zusammengefasst. Die Naturphilosophie hat demnach den Anspruch auf absolute, unumstößliche Wahrheit. Dabei würde man anhand einiger konkreter Beispiele mittels Induktion Vernunfteinsicht in bestimmte Grundprinzipien gewinnen; sie werden als evident und somit als wahr erkannt. Alle weiteren Lehrsätze werden daraus deduktiv hergeleitet. In Anspielung auf Aristoteles nennt Bacon eines seiner Hauptwerke Bacon Novum Organon. Darin kritisiert er, dass sich Aristoteles zu wenig Gedanken über die Methode der Induktion gemacht habe. So schreibt er[1]:
„Bei der Aufstellung der Grundsätze herrscht nicht geringere Willkür und Verirrung als bei der Begriffsbildung, ebenso bei den Prinzipien selbst, die auf der gewöhnlichen Induktion beruhen; aber noch viel mehr bei den niederen Grundsätzen und Sätzen, die der Syllogismus liefert.“
Nach Bacon haben die Wissenschaftler bislang zu wenig empirische Instanzen für ihre Induktion genutzt und außerdem zu unsystematisch. Ferner sind sie zu voreilig auf vermeintliche Grundprinzipien übergegangen. Aufgrund dieser Voreiligkeit nennt Bacon die aristotelische Induktion auch „Antizipation“. Ferner führt dieses Verfahren zu einer Art von Anti-Empirismus. Denn sobald die Prinzipien voreilig antizipiert worden sind, danach aber weitere, widersprechende Erfahrungsbeispiele bekannt werden, dann werden diese Beispiele einfach geleugnet oder verdreht[2]:
„[…] Denn [Aristoteles] hatte seine Grundsätze aufgestellt, ohne Erfahrung bei der Bildung der Urteile und Sätze richtig befragt zu haben: aber nachdem er diese nach seinem Gutdünken festgelegt hatte, rankte er die Erfahrung wie eine Gefangene mit verrenkten Gliedern nach seinem Gefallen um sie herum. Darum verdient er auch härteren Tadel als seine neueren Anhänger […], welche der Erfahrung gänzlich entsagt haben.“
Bemerkenswert ist übrigens, dass Bacon nicht das Ziel der aristotelischen Induktion erwähnt: nämlich die Grundprinzipien für die Vernunft einsichtig bzw. evident zu machen. Bacon spricht vielmehr immer davon, dass Aristoteles die Prinzipien mit „Willkür“ und „nach seinem Gutdünken“ festgelegt hätte. Von Vernunfteinsicht sagt er kein Wort. Der Grund dafür ist sicherlich, dass die Intuition, auf die sich das aristotelische Wissenschaftsmodell beruft, etwas hochgradig Subjektives ist. Wenn ein Mensch behauptet, ein Prinzip intuitiv als wahr zu erkennen, dann heißt das noch lange nicht, dass auch ein anderer Mensch eine entsprechende Vernunfteinsicht haben muss. Eine Intuition ist nicht objektiv überprüfbar.
Weil die aristotelische Induktion nur wenige Erfahrungsbeispiele verwendet, und das auf sehr unsystematische Weise, behauptet Bacon, dass sie nicht zu einer Erkenntnis der wirklichen Natur der Dinge führt. Stattdessen würde sich die bisherige Philosophie in haltlosen Spekulationen und leerer Begriffsklauberei verlieren. So würde Aristoteles seine Naturphilosophie nur mittels sophistischer Dialektik begründen und verteidigen.
Aristoteles kann man noch etwas anderes vorwerfen. Wenn ein Ding die Eigenschaft A hat, dann hat es diese Eigenschaft nach Aristoteles entweder a) zufälligerweise als Akzidenz oder b), weil sie in der Natur des Dinges liegt. Im Fall a) besteht keine naturwissenschaftliche Notwendigkeit. Im Fall b) besteht die Erklärung darin zu sagen, das Ding hat die Eigenschaft A, weil dies in der Natur dieses Dinges liegt. Warum fällt ein Stein? Weil es in dessen Natur liegt. Letztlich ist das aber eine tautologische Erklärung ohne wirklichen Erkenntniszugewinn.
Bacon dagegen gibt die aristotelische Unterscheidung von akzidenteller und essenzieller Eigenschaft auf. Stattdessen meint er, dass die Naturwissenschaft von einem bestimmten Begriff A ausgehen sollte, z.B. warm zu sein, weiß zu sein, ein Mensch zu sein, um ihn auf andere Begriffe \( B_1,…,B_n \) zurückzuführen. Und zwar derart, dass zwei Bedingungen erfüllt sein müssen:
- wenn A vorliegt, müssen auch die Ursachen \(B_1,…,B_n \) vorliegen bzw. vorausgegangen sein;
- wenn \( B_1,…,B_n \) gegeben sind, dann muss sich auch notwendigerweise die Wirkung A einstellen.
In heutiger Notation könnte man das als Äquivalenz schreiben: \(B_1,…,B_n \Leftrightarrow A\). Das ist dann auch die Form, die ein Prinzip nach Bacon hat. Dabei sind die \(B_i\) zusammengenommen die natürliche Ursache für A. Das bedeutet, dass A nicht nur eine bloß sprachliche Festsetzung ist, sondern der Name für eine Eigenschaft ist, die in der Natur real existiert; genauso wie die \(B_i\). Das Prinzip \(B_1,…,B_n \Leftrightarrow A\) ist keine logische Äquivalenz, sondern eine echte Wissenserweiterung. Um mit Kant zu sprechen: Es ist kein analytischer, sondern ein synthetischer Satz. Daher kann er auch nicht mit logisch-deduktiven Mitteln hergeleitet werden.
Um ein solches Prinzip zu finden, gibt es nach Bacon nur einen Weg, den der Induktion. Selbstverständlich kann das nicht die aristotelische Induktion sein, die ihm, wie gesagt, zu unsystematisch und zu beliebig ist. Bacon möchte stattdessen die Induktion zu einer systematischen, wissenschaftlichen Methode machen, die es ermöglicht, die Natur so zu erkennen, wie sie tatsächlich ist, und das unabhängig davon, ob am Ende eine intuitive Vernunfteinsicht generiert wird. Er nennt seine verbesserte Induktion auch Methode der Interpretation, um sie von der aristotelischen Antizipation abzugrenzen. Sie soll ein Werkzeug sein, das ohne besondere Vernunfteinsicht sicher zu allgemeinen Aussagen kommt. Hierzu ein paar Zitate:
„Jeder Schritt muss von der ersten sinnlichen Wahrnehmung an in fester Weise gesichert sein.“[3]
„Denn alle meine Vorgänger […] warfen nur ein paar flüchtige Blicke auf die Dinge, die Beispiele und die Erfahrung und haben sofort […] ihren Geist angerufen, damit er Orakelsprüche von sich gebe. Ich aber habe mich reinen Sinnes dauernd unter den Dingen selbst aufgehalten und habe den Verstand nicht länger den Dingen ferngehalten, als bis der Dinge Bilder und Strahlen […] zusammentreffen konnten, wobei den Kräften und der Vortrefflichkeit des Geistes nicht viel zu tun übrigblieb. […]. Keine Gewalt – sage ich – noch List tue ich den Urteilen der Menschen an. Zu den Dingen selbst und deren Verknüpfungen führe ich sie in Wahrheit hin […].“[4]
„Es ist nicht nur eine größere Anzahl von Versuchen anzustreben […], sondern eine völlig andere Methode, Anordnung und ein anderer Ablauf ist bei der Entwicklung der Erfahrung einzuführen. Denn eine planlose und sich selbst überlassene Erfahrung ist […] ein bloßes Herumtappen im Dunkeln, das die Menschen eher verdummt als belehrt. Wenn aber die Erfahrung eindeutig und stetig nach einer sicheren Regel voranschreitet, lässt sich Besserung für die Wissenschaft erhoffen.“[5]
„Doch ist nicht zulässig, dass der Geist von den Einzeldingen zu den entlegensten und allgemeinsten Sätzen […] planlos hinüberspringt, wobei deren Wahrheit dann für unveränderlich gilt und die mittleren Sätze nach ihnen eingerichtet werden. […] Aber für die Wissenschaften wird man erst dann Hoffnung schöpfen können, wenn man auf einer richtigen Leiter und auf zusammenhängenden Stufen ohne Unterbrechung von dem Einzelnen zu den unteren Grundsätzen aufsteigt, dann zu den mittleren, […] und erst zuletzt zu den allgemeinsten.“[6]
„Für die Feststellung der Lehrsätze muss eine andere Form der Induktion als bisher erdacht werden, sie soll nicht bloß zur Entdeckung und zum Beweis der sogenannten obersten Prinzipien, sondern auch der niederen und mittleren und schließlich aller Sätze dienen.“[7]
Bacon vergleicht seine neue induktive Methode mit einem Werkzeug[8]:
„Fragen wir nun, ob nicht jeder vernünftige Zuschauer es für Wahnsinn hielte einen gewaltigen Obelisken […] herbeizuschaffen, wobei die Arbeiter versuchten, dies mit bloßen Händen zu tun. […] Dennoch stürzen die Menschen sich mit ähnlich tollem Ungestüm und nutzlos vereinten Kräften auf die Dinge des Verstandes. Sie erwarten […] von ihrem Scharfsinn die größten Dinge. Oder sie stärken mittels der Dialektik, die man ja für eine Athletenkunst halten kann, die Kräfte des Geistes. Sieht man aber genauer zu, wird man erkennen, dass sie bei allem Mühen und Schaffen doch immer nur bei dem bloßen Verstand verharren. Denn es ist sonnenklar, dass bei jedem großem Werk, das von Menschenhand erschaffen wird, ohne Werkzeuge und Maschinen weder die Kraft der einzelnen recht angesetzt, noch die Kräfte aller zweckmäßig vereinigt werden können.“
Aber auch Bacon hält an dem Ziel einer Wissenschaft fest, die nicht nur wahrscheinliches, sondern absolut sicheres Wissen erreicht. Bacons Induktion soll ein „sicheres, beweisbares Erkennen“[9] ermöglichen.
Im Ergebnis wirft Bacon den bisherigen Philosophen vor, dass sie zu nichts weiter geführt haben als zu Lehrern und Schülern oder zu unfruchtbaren Streitigkeiten. Ihre Theorien seien nutzlos und hätten keine Verbesserung der Lage der Menschen gebracht. Für Bacon hingegen ist es ein wichtiges Ziel der Naturphilosophie, die Natur zu beherrschen, um so die Lage der Menschen zu verbessern.
Bacons Methode der Induktion
Wie stellt sich Bacon diese verbesserte Induktion vor?[10]
Naturgeschichte (=Ansammlung empirischen Wissens)
Der Ausgangspunkt ist das, was Bacon „Naturgeschichte“ nennt. Er verwendet diese Bezeichnung mit Anspielung auf Plinius den Älteren (23-79 n.Chr.). Plinius hat nämlich ein Werk Naturalis Historia geschrieben, in dem er in 37 Büchern versucht, das gesamte antike naturwissenschaftliche Wissen zusammenzufassen. Er hat damit überhaupt die erste Enzyklopädie geschaffen. Bacon fordert nun, dass wieder eine solche Zusammenfassung empirischen Wissens verfasst wird, und zwar als Gemeinschaftswerk vieler Wissenschaftler. Drei Dinge sind dabei wichtig. Erstens soll sie schriftlich niedergelegt sein. Zweitens soll sie dasjenige Wissen enthalten, das von möglichst allen Wissenschaftlern anerkannt wird. Drittens ist sie fächerübergreifend, also bezieht sich z.B. nicht nur auf die Physik, sondern auf alle Naturwissenschaften und sogar auf handwerklich-mechanische Kenntnisse.
Die Aufgabe ist nun, zu einem Begriff A die entsprechende Gesetzmäßigkeit zu finden. Das heißt, dass diejenigen \(B_1,…,B_n\) gesucht werden, die zusammen die notwendigen und hinreichenden natürlichen Ursachen für A sind, also so dass: \(B_1,…,B_n \Leftrightarrow A\). Bei dieser Aufgabe, die gesuchten \(B_i\) zu finden, will Bacon die Natur „interpretieren“, bzw. seine Methode der Induktion zur Anwendung kommen lassen.
Die implizite Voraussetzung ist, dass A der Name einer realen Eigenschaft ist, die in der Natur wirklich vorkommt, also nicht nur ein willkürlicher sprachlicher Begriff. Das kann man aber zunächst noch nicht wissen, sondern wird sich ggf. im Laufe des Verfahrens herausstellen. Insofern hat Bacons Methode auch eine sprachkritische Komponente.
Bacons Induktion vollzieht sich nun mithilfe von drei sogenannten „tabulae“. Das wird meistens mit „Tafeln“ übersetzt, wobei Bacon eigentlich „Tabellen“ damit meint oder noch besser „Listen“.
(1) Affirmative Liste und Abstraktion der Ursachen.
Am Anfang durchsucht man die Naturgeschichte nach Einträgen, auch „Instanzen“ genannt, bei denen der zu erklärende Begriff A affirmativ vorkommt. So erhält man eine erste, affirmative Liste von Erfahrungsbeispielen und Experimenten für A, die von der Wissenschaftsgemeinde allgemein anerkannt sind. Wichtig dabei ist, dass man die Instanzen aus möglichst unterschiedlichen Gebieten wählt. Der Sinn dahinter ist, dass so der Begriff A getrennt und losgelöst von einer bestimmten Art von Dingen untersucht wird. Nur so wird gewährleistet, dass A für sich betrachtet wird.
Im zweiten Teil des Novum Organons konkretisiert Bacon seine induktive Methode am Beispiel der Wärme. Die affirmative Liste hierzu enthält 27 Instanzen, unter anderem Sonnenstrahlen im Sommer oder mittags, feurige feste Körper, Vulkane, heiße natürliche Quellen, Wolle, Pferdemist.
Aus den Instanzen der affirmativen Liste versucht man nun die Gemeinsamkeiten herauszukristallisieren, sagen wir \(B_1,…,B_n\). Findet man keine Gemeinsamkeiten, dann kann das zwei Gründe haben. Der erste Grund ist, dass sich der Begriff A, recht besehen, nicht auf eine einzige reale, natürliche Eigenschaft bezieht, sondern auf mehrere oder keine. Dann besteht die Aufgabe darin, den Begriff A so einzugrenzen, dass er eine einzige reale, natürliche Eigenschaft bezeichnet. Entsprechend muss man die affirmative Liste abändern.
Ist aber A definitiv die Bezeichnung für eine reale, natürlich Eigenschaft und findet man trotzdem keine Gemeinsamkeiten, dann muss man die in Frage kommenden \(B_i\) auf ein höheres Abstraktionsniveau bringen. Beispielsweise wird mal von Wasser, mal von Alkohol gesprochen, dann ist der Begriff „Flüssigkeit“ ein Vorschlag für einen allgemeineren Begriff, der beide umfasst. Seien \(B’_1,…,B’_n\) die eventuell durch Abstraktion gewonnenen Begriffe, die allen affirmativen Instanzen gemeinsam sind.
Was man nun gefunden hat ist: falls A vorliegt, dann scheinen auch die Begriffe \(B’_1,…,B’_n\) beteiligt zu sein. Das bedeutet: \(A \Rightarrow B’_1,…,B’_n\).
(2) Negative Liste oder Einengung der Ursachen.
Man will aber auch wissen, ob die andere Richtung gilt: \(B’_1,…,B’_n \Rightarrow A\). Wie gesagt, bestand die erste Aufgabe darin, die \(B’_i\) so allgemein zu wählen, dass sie allen affirmativen Instanzen gemeinsam sind. Möglicherweise hat man sie dabei aber zu allgemein gefasst. Beispielsweise kann man meinen, dass für A immer wichtig ist, dass eine Flüssigkeit beteiligt ist. Nun stellt man aber empirisch fest, dass A niemals in Verbindung mit Milch auftritt. Somit ist „Flüssigkeit“ zu allgemein und man muss den Begriff wieder etwas einschränken, beispielsweise zu „transparente Flüssigkeit“.
Deswegen ist die zweite, negative Liste wichtig. Hier werden Instanzen aus der Naturgeschichte aufgelistet, bei denen A nicht vorkommt. Das Problem ist hier allerdings, dass eine solche Negativliste außerordentlich lang werden kann mit vielen irrelevanten Einträgen. Die Kunst ist somit, die Liste sinnvoll einzugrenzen. Im Novum Organon II geht Bacon so vor, dass er die affirmative Liste durchgeht und zu jeder affirmativen Instanz mindestes eine ähnliche Negativinstanz zu finden versucht. So enthält die Negativliste zu Wärme u.a. Mondstrahlen, kalte Stürme, Luft in Kellern.
Hierbei ist das Ziel, Instanzen zu finden, bei denen zwar alle angenommenen Ursachen \(B’_1,…,B’_n\) vorliegen, nicht aber die Wirkung A eintritt. Ist das der Fall, dann muss man untersuchen, welche der \(B’_i\) enger, also weniger allgemein gefasst werden müssen. Auf diese Weise findet man eventuell enger gefasste \(B”_1,…,B”_n\), so dass jetzt die Aussage \(B”_1,…,B”_n \Leftrightarrow A\) wahrscheinlich ist.
Klar ist, dass das so gewonnene Ergebnis umso besser ist, je umfangreicher das Datenmaterial ist.
(3) Liste des graduellen Unterschieds oder Überprüfung der Ursachen.
Um aber die Gültigkeit dieser Aussage zu überprüfen, schreitet man zur dritten Liste, der Liste des graduellen Unterschieds. Dazu wählt man Instanzen aus der Naturgeschichte aus, bei denen graduelle Veränderungen der \(B”_i\) zu einer entsprechenden Änderung von A führen. Am Ende gelangt man zu dem, was Bacon die „erste Lese“ bezeichnet. Bezogen auf die Wärme kommt Bacon zu folgender Definition: sie ist eine ausdehnende Bewegung nach der Oberfläche hin, aber so, dass der Körper sich zugleich in die Höhe hebt[11].
(4) Zusätzliche Experimente und praktische Anwendungen
Gerade wenn es in der Naturgeschichte nicht genug aussagekräftige Instanzen für den geschilderten Prozess gibt, rät Bacon dazu, sich noch weitere Experimente zu überlegen. Im zweiten Teil des Novum Organon zählt er eine ganze Reihe möglicher Hilfsmittel dazu auf. Ich erwähne hier nur seine Idee des Experimentum Crucis[12]. Nehmen wir wieder an, dass man die Ursachen für A finden möchte. Nun weiß man beispielsweise, dass entweder B oder C zu den relevanten Ursachen gehört, man weiß aber nicht, welche von beiden. Dann überlegt man sich ein Experiment, durch das eine Entscheidung getroffen werden kann.
Ein weiteres Beispiel, um die Richtigkeit der gefundenen Aussage \(B”_1,…,B”_n \Leftrightarrow A\) zu überprüfen besteht nach Bacon in einer praktischen Anwendung, was er praktische Deduktion nennt. Damit ist gemeint, dass man sich eine technische Umsetzung ausdenkt, bei der die \(B”_i\) künstlich erzeugt werden. Stellt sich dann A ein, so weiß man, dass die Aussage stimmt.
(5) Erweiterung der Naturgeschichte
Hat sich die Gemeinde der Wissenschaftler schließlich von der Wahrheit der gefundenen Aussage überzeugt, dann wird sie in die Naturgeschichte aufgenommen. Auf diese Weise wird das allgemein anerkannte und gesicherte Wissen nach und nach und systematisch erweitert. Und zwar sozusagen von unten nach oben. Man beginnt mit möglichst konkreten Eigenschaften wie Wärme, Kälte oder Farben, geht weiter zu komplexeren Eigenschaften und Begriffe für Arten und Gattungen, bis man zu immer abstrakteren Begriffen übergeht. Aber auf jeder Ebene können die Erkenntnisse bereits praktisch angewendet werden. Das ist für Bacon gerade auch ein Merkmal der Richtigkeit der theoretischen Ergebnisse. Die Erkenntnisse der unteren Ebene führen zu mechanischen Anwendungen. Aus heutiger Sicht kurios ist, dass Bacon meint, die Erkenntnisse der höchsten Ebene könnten als Magie praktisch genutzt werden.
Nachfolgend stelle ich das aristotelische Modell dem Wissenschaftsmodell Bacons graphisch gegenüber:
[1] Bacon: Novum Organon, Aphorismus I.17.
[2] Bacon: Novum Organon, Aphorismus I.63.
[3] Novum Organon, Vorrede S. 27.
[4] Novum Organon, Vorrede S. 28.
[5] Novum Organon, I.100.
[6] Novum Organon, I.104.
[7] Novum Organon, I.105.
[8] Novum Organon, Vorrede S. 73.
[9] Novum Organon, Vorrede S. 77.
[10] Siehe auch Malherbe, Michael: Bacon’s method of science. Aus: The Cambridge Companion to Bacon.
[11] Novum Organon, II.20.
[12] Novum Organon, II.36.
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