Mathematisches Wissen verbreitet sich

Nachdem man bislang die römischen Zahlen benutzte, kamen im späten Mittelalter die arabischen Ziffern nach Europa.

Mit ihnen veränderte sich das Rechnen fundamental. Jetzt erst konnte man nachvollziehbar schriftlich rechnen. Die neuen Ziffern setzten auch einen Impuls für die Algebra und das Lösen von Gleichungen, was die Mathematiker in ganz neue Bereiche vordringen ließ. In der Antike war die Mathematik ein aristokratisches Hobby einiger weniger. In der Renaissance aber sorgten Rechenschulen und der Buchdruck für eine Art Demokratisierung mathematischen Wissens. Jedenfalls verbreitete es sich in der Bevölkerung wie nie zuvor in der Geschichte.

Dezimalsystem und formaler Kalkül

Im 8. Jahrhundert machten die Araber Bekanntschaft mit dem indischen dezimalen Stellenwertsystem[1]. Dieses System ist im Prinzip identisch mit unserer heutigen Notation von Zahlen, nur dass die Inder andere Zahlensymbole verwendeten. Die erste arabische Arithmetik wurde noch im 8. Jahrhundert von Al-Hwarizmi geschrieben, in dem er das Rechnen mit indischen Zahlen erklärte. Von seinem Namen leitet sich unser heutiges Wort Algorithmus ab. Al-Hwarizmi schrieb auch ein Buch über Algebra, worin er erklärte, wie man Gleichungen mit einer Unbekannten lösen konnte, z.B. der Form: x²+10x=39.[2]

Der Kaufmann Leonardo Fibonacci aus Pisa (1170?-1240?) lernte auf Handelsreisen nach Nordafrika, Syrien und Griechenland die arabisch-indischen Zahlen kennen und erkannte ihre Vorteile. Bislang verwendete man im europäischen Mittelalter die römische Zahlenschrift: I, II, III, IIII, V, etc.

Heutzutage sind uns die arabisch-indischen Zahlen vertraut, weil wir sie von klein auf in der Schule lernen und ständig verwenden. Die römischen Zahlen erscheinen uns hingegen merkwürdig und fremd. Das täuscht darüber hinweg, dass die römische Zahlenschrift mit Sicherheit die natürlichere ist. Und zwar immer dann, wenn es ums Zählen geht; will man hingegen Rechnen, dann ist das römische System unpraktisch und schwerfällig.

Stellen wir uns beispielsweise vor, wir hätten eine große Dose mit 20-Cent-Stücken und hätten die Aufgabe, sie zu zählen. Ich denke, fast jeder Mensch würde es unwillkürlich so machen: Man schüttet die Dose aus und beginnt damit, Haufen von je zehn Münzen zu bilden; sobald man zu viel 10er-Haufen hat, gruppiert man fünf oder zehn von ihnen optisch gut erkennbar zusammen, so dass man 50er- oder 100er-Haufen bekommt. Sobald es mit diesen Haufen unübersichtlich wird, beginnt man auch hier, sie nach einer übergeordneten Struktur zu ordnen. Am Ende hat man z.B. zwei 50er-Haufen und vierzehn 10er-Haufen und noch zwölf einzelne Münzen; somit insgesamt 2×50+14×10+12=252 Münzen.

Auf ähnliche Weise kann man die Münzen dafür verwenden, um andere Dinge durchzuzählen, indem jedem zu zählenden Ding eine Münze zugeordnet wird und die Münzen danach in übersichtliche Einheiten zusammengefasst werden. Noch praktischer ist es, wenn man anstatt der Münzen Striche benutzt. Aber auch hier ist das Prinzip dasselbe: Man beginnt mit einzelnen Strichen, macht aber eine 5er-Gruppe sofort erkennbar, z.B. indem der fünfte Strich die bisherigen vier Striche durchstreicht, und bildet weitere übergeordnete Gruppen, z.B. indem vier 5er-Blöcke gut erkennbar beisammenstehen. Diese Art des Zählens und der Darstellung von Zahlen ist unmittelbar naheliegend und intuitiv. Der Grundgedanke dabei ist, dass erstens das Zählen der Hinzufügung eines weiteren Strichs „I“ entspricht und zweitens der übersichtlichen Zusammenfassung von Strichgruppen. In der römischen Zahlenschrift werden für diese Zusammenfassungen neue Buchstaben eingeführt: „IIIII“ wird zu „V“, zehn Striche „IIIIIIIII“ werden zu „X“ und fünfzig Striche zu „L“ und hundert Striche zu „C“.

Wie gesagt, der Vorteil des römischen Systems ist, dass Zahlen absolut intuitiv dargestellt werden. Mathematisch betrachtet gibt es aber drei gravierende Nachteile. Erstens, je größer die Zahlen werden, umso mehr Symbole braucht man. Das herkömmliche System geht gerade einmal bis Tausend (M). Zweitens sind die römischen Zahlen nicht fürs Rechnen geeignet. Der Leser möge einmal versuchen, folgende römisch dargestellte Zahlen zusammenzuzählen:

MMXCIII
+     XVIII
=          ?

Dass dies zu berechnen, extrem schwierig ist. Und es liegt nicht daran, dass wir darin einfach ungeübt sind, sondern die römischen Zahlen sind an sich nicht zum Rechnen geeignet, weder schriftlich noch im Kopf. Deswegen verwendete man bis zur Einführung des arabisch-indischen Systems zum Rechnen immer Hilfsmittel, wie den Abakus oder sogenannte Rechenbretter. Beidemale wird das Rechnen zur einem gegenständlich-haptischen Operieren, das man mit etwas Übung gewissermaßen in den Fingern hat[3]. Beim Abakus z.B. bedeutet Addieren, dass man entsprechend viele Kugeln hinzugibt. Subtrahieren bedeutet, dass man entsprechend viele Kugeln wegnimmt. Ganz einfach und unmittelbar einleuchtend. Auch Multiplizieren und Dividieren kann man mit dem Abakus.

Damit kommen wir auch schon zum dritten Nachteil. Weder mit dem Rechenbrett noch mit dem Abakus werden die einzelnen Rechenschritte schriftlich dokumentiert. Ist jemand mit dem Abakus zu einem bestimmten Rechenergebnis gekommen, dann kann ein anderer dieses Ergebnis nur überprüfen, indem er selbst alles von Anfang bis Ende mit dem Abakus durchrechnet. Treten Unstimmigkeiten auf, dann weiß man nicht, an welcher Stelle der erechnung ein Fehler gemacht wurde. Somit ist die ganze Rechnung kaum überprüfbar.

Die genannten drei Nachteile gibt es nicht im arabisch-indischen Dezimalsystem. Erstens kann jede noch so große Zahl leicht dargestellt werden, einfach indem weitere Nullen hinzugefügt werden. Zusätzliche neue Symbole wie bei den römischen Zahlen müssen nicht eingeführt werden. Jede erdenkliche Zahl kann alleine durch die Ziffern 0,…,9 dargestellt werden.

Zweitens, und das ist vielleicht die wichtigste Neuerung: Während die römischen Zahlen für das Rechnen vollkommen ungeeignet sind, kann man die Zahlzeichen im arabisch-indischen Dezimalsystem hervorragend zum Rechnen verwenden. Nehmen wir das obige Beispiel, das in arabisch-indischer Schreibweise so aussieht:

 2093
+ 108
=   ?

Hier ist das Vorgehen sehr einfach, indem man die Darstellungen der Zahlen selbst zum Rechnen verwendet. Man nimmt die beiden letzten Ziffern der beiden Zahlen, 3 und 8, addiert sie im Kopf miteinander, was 11 ergibt. Dann notiert man als erstes Teilergebnis die 1 und merkt sich die 1 für die Addition der Zehner-Ziffern, so dass im nächsten Schritt 9+0+1 gerechnet wird. Auch das geht leicht im Kopf und ergibt 10. So kommt man zu dem nächsten Teilergebnis, nämlich der 0. Und wieder wird die 1 gemerkt für die Addition der Hunderter-Ziffern, also 0+1+1. Dies ergibt 2, was das nächste Teilergebnis ist. Schließlich trägt man einfach die Tausender-Ziffer 2 nach unten und erhält das Gesamtergebnis: 2201.

Bei dieser Art des Rechnens zerfällt drittens die Rechnung in eine Vielzahl kleiner Teilschritte, die jeder für sich sehr leicht zu bewältigen ist. Und vor allem kann jeder Teilschritt schriftlich dokumentiert werden, so dass man die Rechnung gut überprüfen kann.

Tatsächlich bedeutete die Erfindung des arabisch-indischen Dezimalsystems eine wegweisende mathematische Innovation. Wir haben nämlich das erste Mal in der Geschichte einen formalen Kalkül. Bis dahin gab es keinen Formalismus in der Mathematik, geschweige denn, dass man mit Symbolen rechnen konnte. Heutzutage ist dies geradezu ein Markenzeichen der Mathematik. Der Formalismus ist einer der Erfolgsfaktoren der neuzeitlichen Mathematik. Algebra, Differentialrechnung, und später die formale mathematische Logik lagen auf dem Weg zu einer zunehmenden Formalisierung.

Die wichtigsten Merkmale dieser Formalisierung sind:

  1. Eine formale, symbolisch Sprache, die den Zweck hat, komplexe Sachverhalte transparenter darzustellen als es mittels der Umgangssprache möglich ist.
  2. Ein formaler Kalkül, …
    • … der nicht mit den mathematischen Objekten selbst operiert, sondern nur mit formalen Symbolen und Zeichen.
    • … der aus einer Reihe kleiner und übersichtlicher Teilschritte besteht, die so leicht zu bewältigen sind, dass Fehler unwahrscheinlich sind. Diese Teilschritte können durch eine allgemeine Regel beschrieben werden.
    • … dessen Teilschritte dokumentiert werden können, so dass die Richtigkeit der Rechnung gut von anderen überprüft werden kann.

So schreibt auch De Padova, dass „der Übergang von einem Zahlensystem zum anderen und vom gegenständlichen Rechnen zum schriftlichen Rechnen […] einer Revolution des mathematischen Denkens gleich[kommt].“

A propos Schriftlichkeit und Formalismus: Es dauerte noch etwa bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, solche formalen Symbole wie beispielsweise das Pluszeichen „ “, das Minuszeichen „ “ oder das Gleichheitszeichen „ “ verwendet wurden.

Lösen von Gleichungen und neue Zahlen

Das schriftliche Rechnen lenkte die Aufmerksamkeit der Mathematiker auf das Rechnen mit Unbekannten. Hier ein zeitgenössisches Beispiel[4]:

„Einer spricht zu etlichen Gesellen / Got grüsse euch alle dreissig. Antwort jr einer. Wenn unser noch sovil / und halb sovil weren / so weren unser 30. Wievil sind jrer?“

Gesucht ist die richtige Zahl der Gesellen. Solche Textaufgaben kennen wir aus unserer Schulzeit. Und der erste Schritt zur Lösung besteht darin, diesen Text in eine mathematische Gleichung zu übersetzen:

x + x + 1/2 x = 30

Löst man nun nach der Unbekannten  auf, so erhält man 12 als Lösung.

Solche Rechenaufgaben mit einer Unbekannten begünstigten den Fortschritt in der Algebra und erweiterten den Zahlbegriff. Denn fängt man mit Gleichungen erst einmal an, dann stößt man auch auf solche Gleichungen, die man entweder für unlösbar erklärt oder für deren Lösung man neue Arten von Zahlen annehmen muss. Nun ist es so, dass man sowohl in der Antike als auch im Mittelalter zunächst nur die sog. natürlichen Zahlen kannte, also 1, 2, 3, etc. Betrachten wir nun folgende Gleichung:

Sie ist offenbar durch keine natürliche Zahl lösbar, wohl aber für . Auf diese Weise kommt man zu den negativen Zahlen. Und man kann sie durchaus als in der Realität vorkommend verstehen entweder als Schulden oder als Schritte zurück.

Sehen wir uns nun die folgende Gleichung an:

3x + 15 = 0

Sie ist nur für  lösbar. Also muss der Zahlbegriff zunächst auf negative Zahlen, dann auf Brüche, oder wie man sie auch nennt: rationale Zahlen, erweitert werden. Und zwar genaugenommen sowohl auf positive, als auch negative rationale Zahlen. Auch rationalen Zahlen kann man als Ausdruck von Proportionen oder quantitativen Verhältnissen eine wirklichkeitsnahe Interpretation geben.

Gehen wir weiter zu:

3x – 15 = 0

Diese Gleichung kann nur durch  gelöst werden, was eine sog. irrationale Zahl ist, also nicht als Bruch dargestellt werden kann. Und solche Zahlen kann man geometrisch als Längen von Strecken verstehen.

Was wir hier erstmals antreffen, und was vor allem für die Mathematik des 19. Jahrhunderts wichtig werden wird, ist, wie ein mathematischer Formalismus zur Annahme neuer mathematischer Gegenstände führt. Ein ganz besonderer Fall liegt vor, wenn man sich die nächste Gleichung ansieht:

x² + 2 = 1

Denn eine Lösung müsste eine Zahl sein, die, wenn man sich mit sich selbst multipliziert, -1 ergibt. Aber eine solche Zahl gibt es normalerweise nicht. Will man derartige Gleichungen also als unlösbar bezeichnen?  Gerolamo Cardano (1501-1576) hat nun spielerisch eine Zahl i angenommen, für die i²=-1 gilt. Er wusste zwar nicht, wie man sie verstehen soll, was ihr in der Wirklichkeit entsprechen würde, aber begann einfach, mit ihre zu rechnen. So erfand er die sogenannten komplexen Zahlen, für die man erst über 200 Jahre später eine geometrische Interpretation fand. Zunächst waren es aber völlig rätselhafte Zahlen, so dass Descartes sie auch „imaginär“ nannte. Umso erstaunlicher war, dass die Mathematiker schnell herausfanden, wie hilfreich diese „Phantasie-Zahlen“ oft sind. Auch in der mathematischen Physik waren sie bereits im 18. Jahrhundert nicht mehr wegzudenken.

In jedem Fall bedeutete das arabisch-indische Dezimalsystem eine Formalisierung der Mathematik und veranlasste die Mathematiker über das Lösen von Gleichungen mit einer Unbekannten nachzudenken. Dies wiederum führte zu enormen Fortschritten in der Algebra und erweiterte den bisher gängigen Zahlbegriff.

Demokratisierung mathematischen Wissens: Rechenschulen und Buchdruck

Das Dezimalsystem samt seinen neuen Rechenmethoden war gerade für die Kaufleute ein großer Fortschritt: Gewinnaufteilungen unter mehreren Gesellschaftern, Zusammenzählen von Zahlenkolonnen, Umrechnen von Maßeinheiten und Währungen, Kalkulation von Preisen und Gewinnen, etc. In seinem Buch Liber abaci stellt Fibonacci nicht nur das neue Zahlensystem, sowie das Rechnen darin vor, sondern gibt eine Fülle von kaufmännischen Anwendungen.

In Italien setzte sich das das arabisch-indische System langsam aber kontinuierlich durch. In dieser Zeit wurde auch die doppelte Buchführung erfunden, so dass das Rechnen gerade für den Fernhandel immer wichtiger wurde. Es entstanden sogenannte Abakus-Schulen, in denen in der Regel Kaufmannssöhne zwei Jahre lang in das neue Rechnen unterrichtet wurden. In Deutschland verdrängten die arabischen Zahlen die römischen erst im Laufe des 15. Jahrhunderts.

Johannes Gutenberg (1400-1468) löste mit der Erfindung des Buchdrucks 1450 eine mediale Revolution aus. Den ersten wissenschaftlichen Fachverlag gründete Johannes Regiomontanus (geb. 1436 als Johannes Müller im fränkischen Königsberg, gest. 1476 in Rom). Er war selbst ein hervorragender Mathematiker und Astronom, er arbeitete auch an der Kalenderreform, die schließlich 1582 von Papst Gregor XIII eingeführt wurde. Ab 1473 begann Regiomontanus antike mathematische Werke erstmals als gedruckte Bücher herauszugeben, unter anderem von Euklid, Archimedes und Apollonius. Er druckte aber auch arithmetische Werke neuerer Autoren. Der Buchdruck gestattete es, dass sich zeitgenössische Mathematiker mit eigenen Rechenbüchern profilieren konnten. So wuchs schnell die Anzahl der gedruckten mathematischen Werke. Zu einem der bekanntesten Mathematik-Lehrbücher in Deutschland wurde das von Adam Ries (1492-1559), in Italien ähnlich berühmt war das Lehrbuch von Lucia Pacioli (1445-1517).

So führten sowohl die Rechenschulen, als auch der Buchdruck zu einer nie dagewesenen Verbreitung mathematischen Wissens. Es gab noch nie so viele Menschen, die Zugang zu mathematischer Bildung hatten.

 

[1] In diesem Kapitel beziehe ich mich größtenteils auf Alles wird Zahl von Thomas de Padova, sowie 6000 Jahre Mathematik Band I von H. Wußing, S. 241 ff., S. 334 ff.S. 341 ff. S. 386 ff.

[2] Siehe De Padova [10], S. 316 ff.

[3] Siehe De Padova: Alles wird Zahl, S. 79 f.

[4] Entnommen aus De Padova [10], S. 284 f.

1 Kommentar
  1. Thinking sagte:

    „In elf Bundesländern ist eine verpflichtende Abiturprüfung im
    Grundkurs Mathematik nicht vorgesehen. In diesen
    Ländern müssen die Schülerinnen und Schüler ihre
    Ergebnisse aus der Qualifikationsphase im Fach
    Mathematik zwar in das Gesamtergebnis über alle
    Fächer einbringen, sie müssen aber nicht verbindlich
    geprüft werden”.
    Die Lenkungsgruppe berät derzeit ergebnissoffen das
    weitere Verfahren mit dem Grundkurs im Fach
    Mathematik in Mecklenburg-Vorpommern.
    Schwerin, 12.06.2023
    Nummer: 112-23
    Ministerium für Bildung
    und Kindertagesförderung
    Mecklenburg-Vorpommern
    Werderstraße 124
    D-19055 Schwerin
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