Hat Galilei die mathematische Naturwissenschaft erfunden?

Ein wesentlicher Erfolgsfaktor der modernen Physik besteht darin, dass sie mathematisch ist.

So betont Josef Honerkamp in Wissenschaft und Weltbilder die große Be­deutung mathematischer Modelle in der modernen Physik[1]:

„In solchen mathematischen Modellen treten, durch Symbole gekennzeichnet, mathematische Größen auf, die für etwas in unserer Welt stehen sollen. Dieses Etwas kann der Ort eines Teilchens sein, ein elektromagnetisches Feld oder der Zustand eines Quants. Mit den mathematischen Größen weiß man zu rechnen […]. Man kann im Rahmen des Modells also, losgelöst von jeglichen Gedanken an die Natur, bestimmte Folgerungen ziehen und kommt so, wenn man sich wieder an die Korrespondenz zwischen mathematischen Größen und physikalischen Größen erinnert, zu Aussagen über das Verhalten der Natur.

Auf der mathematischen Ebene haben wir es also immer mit exakt definierten Begriffen zu tun, das mathematische Modell wirkt somit wie ein Korsett in die Beschreibung der Natur hinein, und die Frage nach der Gültigkeit des Modells wird entschieden dadurch, wie weit die Natur dieses Korsett ‚billigt‘, ob also die theoretischen Ergebnisse mit Experimenten übereinstimmten.“

Ferner:

„Wer Physik studieren will, muss in den ersten Semestern erst durch eine harte mathematische Schulung gehen. […] Ohne die Beherrschung der mathematischen Sprache kann man aber kein Verständnis der physikalischen Theorien erhalten.“

Und wie viele Physiker hat auch Honerkamp eine klare Vorstellung davon, wer die mathematischen Methoden in die Naturwissenschaft eingeführt hat, nämlich Galileo Galilei[2]:

„Als Galilei Anfang des 17. Jahrhunderts die neue Wissenschaft, die moderne Naturwissenschaft ‚entdeckte‘, orientierte er sich an Euklid und erkannte die Bedeutung der mathematischen Sprache für die Beschreibung der Beobachtungen und Experimente.“

Immerhin geht auf Galilei das berühmte Zitat zurück, dass das Buch der Natur in den Buchstaben der Mathematik geschrieben sei[3]. Außerdem spricht er an verschiedenen Stellen seines Werkes von einer „neuen Wissenschaft“. Galileis Naturwissenschaft ist „neu“, weil sie – im Gegensatz zu einer aristotelischen Naturwissenschaft – die Mathematik als wichtiges Hilfsmittel zur Naturerkenntnis verwendet. Hat Honerkamp also recht und Galilei hat die mathematische Naturwissenschaft „entdeckt“, sozusagen im Alleingang aus der Taufe gehoben?

Meine Antwort ist: Nein. Wie ich nachfolgend zeigen werde, ist die mathematische Naturwissenschaft nicht vom Himmel gefallen, auch hat sie kein einzelnes großes Genie erfunden. Zunächst ist Galilei mitnichten der erste Naturphilosoph, der mathematische Methoden zur Naturerkenntnis verwendet hat. Die Liste entsprechender Vorgänger oder ähnlich arbeitender Zeitgenossen ist sehr lang. Man denke nur beispielsweise an Kopernikus oder Kepler.

Wichtiger aber noch erscheint mir, dass die mathematische Naturwissenschaft offenbar durch gesellschaftliche Entwicklungen vorbereitet worden war. Die europäische Kultur seit dem Hochmittelalter hatte sich „mathematisiert“. In der Antike war die Mathematik eine Angelegenheit weniger, die sich damit zu ihrer geistigen Erbauung beschäftigten ohne Interesse an praktischen Anwendungen. In der Renaissance wurde die Mathematik hingegen zu einer Angelegenheit vieler, die sie mannigfaltig nutzbar machten. Das Rechnen mit arabischen Ziffern war eine bedeutende Innovation. Auf der Grundlage mathematischer Überlegungen wurden neuartige Maschinen entworfen. Geometrische Formen inspirierten zum Bau von Gebäuden, Kuppeln, Wasseranlagen und Festungen. Die Kartografie half den Seefahrern und Kaufleuten.

So ist es sicher kein Zufall, dass auch die Kunst in der Renaissance mathematisch wurde. Die Maler schufen besonders realitätsnahe Bilder, weil sie mit der Zentralperspektive vertraut waren, die wiederum auf der Geometrie beruht. Der menschliche Körper und Gesichter wurden nach geometrischen Formen und nach Zahlenverhältnissen analysiert. Und einige Renaissance-Künstler, wie z.B. Albert Dürer oder Leonardo da Vinci, widmeten sich mathematischen Problemen.

Jedenfalls ist es auf der Hand liegend, dass sich im Laufe der Renaissance der Blick der Menschen auf die Welt veränderte. Überall sah man geometrische und quantitative Strukturen. Man begann die materielle Wirklichkeit geometrische-quantitativ aufzufassen. Und diese Mathematisierung der Natur legte den Grundstein für die neue mathematisch orientierte Naturwissenschaft.

[1] Honerkamp: Wissenschaft und Weltbilder, S. 36 f.; das zweite Zitat steht auf S. 43.

[2] Honerkamp: Was können wir wissen?, S. 257 f.

[3] Sinngemäß zitiert aus Galilei: Il Saggiatore VI 232.

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