Mathematik in Ingenieurskunst und Malerei der Renaissance
Heutzutage besteht zwischen Ingenieuren und den Naturwissenschaftlern ein fruchtbarer Austausch[1]. Die Wissenschaft regt technischen Innovationen an, und technische Errungenschaften führen zu wissenschaftlichem Fortschritt.
Wissenschaftler erarbeiten Theorien, die die Technik besser verstehen helfen, und Ingenieure konstruieren neue Messtechniken oder Anlagen für Experimente, was wiederum der Forschung zu Gute kommt.
Wissenschaft wird demokratisiert
Einen solchen Austausch gab es in der Antike nicht. Ja, es gab Kriegsmaschinen, Kräne und dergleichen, andere, wie z.B. Heron, ersannen ausgeklügelte technische Spielzeuge. Aber letztlich war sich die antike Wissenschaft zu fein für die Ingenieurskunst. Das war wohl auch deswegen schlicht nicht notwendig, weil die antike Gesellschaft eine Sklavenhaltergesellschaft war. Die Arbeit wurde von Sklaven verrichtet und davon gab es genug. Warum also sollte man über arbeitserleichternde Maschinen nachdenken? Stattdessen war die antike Wissenschaft aristokratisch. Sie blieb ein Steckenpferd der privilegierten Schicht, eine edle geistige Beschäftigung, um Mußestunden auszufüllen[2], was man ansonsten mit Sport oder Gesprächen mit Freunden tun würde.
In der Neuzeit hingegen wurde die Wissenschaft demokratisch. Sie sollte dazu beitragen, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Wissenschaft sollte nicht mehr der reinen Kontemplation oder der persönlichen Erbauung dienen, sondern praktische Zwecke erfüllen. Sie sollte dabei helfen, Not, Sorge und Leid, wenn nicht zu beseitigen, so doch zu verringern. Am eloquentesten beschreibt Francis Bacon (1561-1626) diese neue Zielsetzung der Wissenschaft. Damit gehen aber auch Naturwissenschaft und Ingenieurskunst die Ehe ein, die bis heute für beide Seiten extrem erfolgreich war. Ich kann es nicht besser formulieren als der Wissenschaftshistoriker Dijksterhuis[3]:
„Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert sieht man in verschiedenen Ländern eine Klasse von Praktikern entstehen, die, sofern sie sich nicht selbst mit Fragen naturwissenschaftlicher Art beschäftigen, durch die Art ihrer Arbeit das Interesse für diese Fragen bei anderen geweckt haben. Sie umfasst zunächst Künstler-Ingenieure, Maler, Bildhauer und Architekten, die aber zugleich Kanäle anlegen, Schleusen bauen, Festungswerke entwerfen und ausführen lassen und neue Werkzeuge erfinden. In Italien kann man Männer wie Brunelleschi, Ghiberti, Alberti, Leonardo da Vinci, Benvenuto Cellini als Beispiele nennen, in Deutschland Albrecht Dürer. An sie schließt sich die Klasse der Instrumentenmacher an, die für Seefahrt, Geodäsie, Astronomie und Musik tätig sind, ferner Uhrmacher, die Kartographen und die Kriegstechniker. Ihr Werk ist für das Phänomen, das man die Renaissance nennt, ebenso wesentlich und nicht wegzudenken, wie das der humanistischen Gelehrten und der bildenden Künstler. Es ging ja, nach der Formulierung von Burckhard, um die Entdeckung der Welt und des Menschen; der erste Teil dieser Untersuchung spielt u.a. auf die Entdeckungen, auf Wiederbelebung astronomischer Forschung, auf ein tieferes Eindringen in die Wunder der lebenden Natur und des toten Stoffes an; hierfür waren aber instrumentelle Hilfsmittel eine notwendige Bedingung, und alle, die nautische und astronomische Werkzeuge konstruierten und Karten zeichneten, bald auch der Erfinder der Fernrohre und Mikroskope, haben dazu beigetragen.
Vieles von der Fachkenntnis und der Fertigkeit, die dabei an den Tag gelegt wurde, war natürlich noch rein empirisch, aber es konnte nicht ausbleiben, dass der ständige Umgang mit der widerspenstigen Materie das Kausalitätsbedürfnis reizen und ein Streben nach rationeller Arbeitsweise ins Leben rufen musste. Dadurch wird verständlich, dass der erste Zweig der Naturwissenschaft, in dem sich die Erneuerung vollziehen sollte, die Mechanik (vorläufig noch im Sinne von Werkzeugkunde) gewesen ist.“
Mathematik wird für praktische Fragen nutzbar gemacht
Ein Nebeneffekt dieser Entwicklung ist, ist eine neue Auffassung von Mathematik. Während man in der Antike sich mit mathematischen Fragen beschäftigte, weil man eine intellektuelle Freude am Lösen mathematischer Probleme hatte, merken die Künstler-Ingenieure der Renaissance wie nützlich die Mathematik zur Lösung von technischen Problemen ist. Maler, Bildhauer und Architekten, Kanal- und Festungsbauer, etc. erkannten, dass die Mathematik für ihre Belange unentbehrlich ist. So schreibt Dijksterhuis weiter[4]:
„Man kann daher auch im fünfzehnten Jahrhundert in Italien ein wachsendes Bewusstwerden der Bedeutung der Mathematik als Grundlage oder wesentliches Hilfsmittel für jegliche technische und künstlerische Tätigkeit feststellen, das im sechzehnten Jahrhundert anhält und in beiden zu wichtigen Schritten Anlass gibt.“
Wie wichtig die Mathematik für die Architektur oder im Festungsbau ist, ist naheliegend. Je komplexer die Gebäude, umso sorgfältiger muss die Statik berechnet werden. Je stärker die feindlichen Kanonen, umso besser müssen die abwehrenden Mauern entworfen werden. Mathematische Überlegungen führten aber auch dazu, dass Mühlen effektiver arbeiteten.
Die Seefahrt wurde immer globaler und dementsprechend wurden gute Karten immer wichtiger. Auch hier war die Mathematik hilfreich:
Ferner erkannte man die Bedeutung der Mathematik bei der Herstellung von Werkzeugen, Instrumenten und Maschinen:
So führte die Demokratisierung der Wissenschaft erstens zu einer Zusammenarbeit von Naturwissenschaft und Ingenieurskunst. Zweitens erkannte man, dass die Mathematik nicht nur eine abstrakte Wissenschaft von idealtypischen Strukturen ist, die mit der Realität nichts zu tun haben, sondern für Lösung von technischen Problemen äußerst nützlich ist.
Dies hatte drittens, wie ich meine, eine neue Sicht auf die materielle Welt zur Folge. Da Aristoteles keine technischen Probleme lösen musste, konnte er leicht behaupten, dass die Mathematik unwesentlich für die Naturerkenntnis ist. Und Platon konnte die Mathematik in einen Ideenhimmel verlegen, weit weg von der empirischen Realität. Sobald man aber konkret Maschinen konstruieren, Karten zeichnen, Festungsanlagen bauen will, muss man die Dinge geometrisch-quantitativ begreifen. Die Sicht auf die Welt wird mathematisch. Das ist es, was man „Mathematisierung der Natur“ nennen kann, die gut vorbereitet wurde durch das neue Rechnen mit arabischen Ziffern, der Verbreitung der Mathematik durch Rechenschulen und dem Druck alter antiker Mathematikbücher, sowie neuer Rechenbücher. Diese neue mathematische Sicht auf die Welt spiegelt sich auch in der Kunst der Renaissance wider.
Kunst und Mathematik in der Renaissance
Im Mittelalter dominierte die sogenannte Bedeutungsperspektive, d.h. Personen wurden größer oder kleiner dargestellt, je nachdem welchen gesellschaftlichen oder religiösen Rang sie hatten[5]. Eine räumlich realistische Darstellung wurde nicht angestrebt. Dies änderte sich in der Renaissance. Personen, Dinge und Landschaften sollten nun so abgebildet werden, wie sie tatsächlich erscheinen. Der in Florenz wirkende Künstler, Architekt und Ingenieur Filippo Brunelleschi (1377-1446) gilt als Erfinder der Zentralperspektive. De Padova schreibt hierzu[6]:
„Es ist jener Moment, in dem sich Wissenschaft und Kunst auf völlig neue Weise miteinander verbinden, das mathematische Verständnis des Sehens in eine geometrische Darstellungstechnik übergeht […]“
Wie sehr das perspektivische Malen mit Geometrie zu tun hat, erfahren auch heute noch Schüler, wenn sie diese Technik im Kunstunterricht lernen und anwenden sollen. Es muss ein Fluchtpunkt festgelegt werden, auf den hin verschiedene Geraden ausgerichtet werden. Das eigentliche Bild muss in ein Gitternetz von Linien eingefügt werden. Bevor die Hilfslinien übermalt werden, macht das Ganze einen sehr mathematischen Eindruck, fast wie eine technische Zeichnung.
Dieser mathematische Eindruck ist kein Zufall. Als die Renaissance-Künstler damit begannen, sich mit Perspektive zu beschäftigen, war das nicht nur irgendeine neue Zeichentechnik, sondern von Anfang an durch die klassische Mathematik inspiriert, genau genommen durch Euklids Optik. Zweifellos wurde die Schwierigkeit, die Dinge realistisch abzubilden, als geometrisches Problem aufgefasst.
Einer der ersten, die ein theoretisches Werk über die neue Technik veröffentlichte (1436), war Leon Battista Alberti (1404-1472) mit seiner Abhandlung Della Pittura. David Wade schreibt[7]:
„Darin wurden die neuen Theorien und Methoden der perspektivischen Darstellung im Detail beschrieben. Alberti war bestens vorbereitet, um dieses Wissen zu vermitteln – in der Schule von Padua war er in den optischen Wissenschaften […] unterrichtet worden. Es ist klar, dass Alberti mit Della Pittura nicht nur die Techniken der Malerei verbessern wollte, indem er sie auf eine wissenschaftliche Grundlage stellte, zugleich wollte er den Beruf des Künstlers aufwerten […].“
Hier ein paar Skizzen aus Albertis Werk, sowie eine Studie zu Licht und Schatten von Da Vinci:
Um sich in dieser neuen Technik zu üben, wählten die Künstler häufig komplexe geometrische Körper. Insbesondere der Mazzocchio, das Draht- oder Holzgeflecht für eine damals modische Kopfbedeckung, wurde oft für Zeichenübungen hergenommen:
De Padova schreibt[8]:
„Wer diese neue Bildsprache erlernen wollte, wer räumliche und perspektivische Wirkungen erzielen wollte, für den war die Konstruktion eines ‚mazzocchio‘ eine Art Gesellenstück. In einem zeitgenössischen Lehrbuch hieß es, die Beherrschung des ‚mazzocchio‘ erleichtere dem Zeichner die Bewältigung sämtlicher perspektivischer Schwierigkeiten, denen er begegnen konnte. […] Der ‚mazzocchio‘ spielt mit Geometrie. Er nimmt Formen wie Kreis und Quadrat, Sechs- und Achteck auf. […]“
Zugleich verknüpfte die Perspektive-Technik Geometrie mit der Ingenieurskunst, indem die neue Art des geometrischen Zeichnens durch den sogenannten Perspektographen unterstützt wurde. Das waren Apparate, mit deren Hilfe der Künstler dreidimensionale Gegenstände auf der zweidimensionalen Ebene abbilden konnte, und zwar auf sehr leichte Weise. Letztlich bestand dieser Apparat aus einem transparenten Glas, hinter das man den Gegenstand platzierte; dann fixierte man seinen Kopf, schloss ein Auge und malte das aufs Glas, was man direkt dahinter sah.
Als weiteres Beispiel, wie sehr man sich in der Renaissance mit komplexen geometrischen Körpern beschäftigte, ist hier eine von elf Zeichnungen, die der Nürnberger Lorenz Stöer 1567 veröffentlichte:
Offensichtlich begriffen die Renaissance-Künstler die Welt in geometrischen Formen. Das sieht man nicht nur an der Perspektive-Technik. Jetzt wurde auch gelehrt, beispielsweise Gesichter oder Lebewesen unter Zuhilfenahme von geometrischen Figuren zu zeichnen:
Aber auch Proportionen und Zahlenverhältnisse wurden von den Renaissance-Künstler sorgfältig studiert, um die Dinge möglichst so abbilden zu können, wie sie wirklich sind.
Darüber hinaus beschäftigten sich viele Renaissance-Künstler aus wissenschaftlichem Interesse mit Fragen der Geometrie. Alberti wurde oben bereits genannt. Aber auch Paolo Uccello, Piero della Francesca und Leonarda da Vinci „vergraben sich [manchmal] wochen- und monatelang in mathematische Studien“.
Dürer hat 1525 ein Lehrbuch geschrieben: Underweysung der messung mit zirckel und rechtscheyt. Darin behandelt er unter anderem die geometrische Konstruktion regelmäßiger Vielecke. Ein anderes mathematisches Thema, für das er sich interessierte, waren zusammenhängende Faltskizzen in der Ebene, z.B. auf einem Blatt Papier, aus denen man dreidimensionale Körper „basteln“ kann, und zwar ohne Lücke. Jeder kennt die ebene Faltskizze für einen Würfel.
Dürer stellte sich die Frage, ob man für jedes konvexes Polyeder eine zusammenhängende, ebene Faltskizze entwerfen kann. Dies ist als Dürer-Vermutung in die Mathematikgeschichte eingegangen und ist bis heute ungelöst. De Padova schreibt[9]:
„Überraschend sind solche Verbindungen zur heutigen Mathematik deshalb, weil Dürers Buch als Einführungskurs für angehende Künstler – nicht für Mathematiker – gedacht ist. Es ist gespickt mit praktischen Konstruktionsvorschriften. Dazwischen findet sich ein einziger mathematischer Beweis im engeren Sinne […]“.
All dies zeigt, wie sehr die Mathematik die bildende Kunst der Renaissance durchdrang. Die damaligen Künstler erkannten die geometrischen Strukturen der Wirklichkeit, sowie deren arithmetische Proportionen. Man sieht auch sehr gut, dass die Mathematik für sie keine Sphäre war, die von der wahrnehmbaren Wirklichkeit abgelöst war, sozusagen in einem jenseitigen, platonischen Ideenhimmel platziert. Die Mathematik war ihnen vielmehr im Diesseits präsent. Sie galt als etwas, das an und in den Dingen selbst erkennbar ist. Jedes einzelne der obigen Zeichnungen drückt dies aus. Obwohl die Natur nicht perfekt und idealtypisch mathematisch ist, ist sie in ihren Grundstrukturen eben doch mathematisch, was zugleich eine Aufwertung der Approximation bedeutete. Diesen Gedanken werde ich nun am Vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci vertiefen.
Vitruv ist ein antiker römischer Schriftsteller, der ein Werk über die Architektur geschrieben hat. Berühmt ist es vor allem deswegen, weil es das einzige Werk über dieses Thema ist, das uns erhalten geblieben ist. Alle anderen sind verloren gegangen. In diesem Werk gibt Vitruv die Maße eines ideal geformten Menschen an. Außerdem sagt er, in welchem Verhältnis bestimmte Körpermaße idealtypisch zueinander stehen; z.B. müsste die Brustbreite zur Körperhöhe im Verhältnis 1 zu 4 stehen. Ferner schreibt er: „Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt.“ Außerdem kann man den idealen Menschen perfekt in ein Quadrat einfügen.
Darauf bezieht sich die berühmte Zeichnung Der vitruvianische Mensch von Leonardo da Vinci. Das eigentlich Bemerkenswerte an da Vincis Arbeit ist, dass sein Mensch gerade nicht genau den Idealmaßen und Idealproportionen Vitruvs entspricht. Es gibt geringfügige Abweichungen. Anders formuliert: Da Vincis Vitruvianischer Mensch ist nur eine Approximation. Dass er kein Ideal ist, sieht man auch daran, dass hier ein konkreter Mann mit bestimmten Gesichtszügen und einem durchaus individuellen Aussehen gezeichnet wurde. Dennoch ist er in Kreis und Quadrat eingeschrieben.
Die antiken Philosophen sahen vor allem den Unterschied zwischen dem konkreten sinnlich erfahrbaren Ding und dem idealen Mathematischen. Da Vinci hingegen sieht das Gemeinsame. Auf der einen Seite ist sein Vitruvianischer Mensch nicht das Ideal, aber als Approximation ist er fast wie das Ideal. Trotz geringfügiger Abweichung ist er eben doch mathematisch erfassbar. Und wie bei da Vinci sieht man auch bei Dürer und anderen Renaissance-Künstlern, dass sie die Grundstruktur der Realität – trotz ihrer Unvollkommenheit und Nicht-Idealität – mathematisch auffassten.
[1] In diesem Kapitel beziehe ich mich vor allem auf: Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbilds.
[2] Siehe Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbilds, S. 82-85.
[3] Die Mechanisierung des Weltbildes, S. 270 ff.
[4] Die Mechanisierung des Weltbildes, S. 272.
[5] In diesem Kapitel beziehe ich mich vor allem auf:
- De Padova, Thomas: Alles wird Zahl – Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand.
- Wade, David: Geometrie und Kunst – Der Einfluss antiker Mathematik auf die Kunst der Renaissance.
[6] De Padova: Alles wird Zahl, S. 124.
[7] Wade, David: Geometrie und Kunst, S. 47.
[8] De Padova: Alles wird Zahl. S. 123.
[9] De Padova: Alles wird Zahl, S. 218.
[10] Honerkamp: Was können wir wissen?, S. XXII.
Dieses ist eine äußerst beeindruckende Erklärung der Fortschritte in der Kunst (auch in der Anatomie) und Architektur in der Renaissance mit der Hilfe der Mathematik.