Kritik an Descartes
Descartes stellt erstmals das Ich mit seinen subjektiven Bewusstseinserlebnissen (die res cogitans) in das Zentrum philosophischer Überlegungen.
Damit geht er einen neuen, revolutionären Schritt, der die neuzeitliche Philosophie mindestens vierhundert Jahre lang beschäftigen wird. Auch seine Vorstellung von dem Ich wird die Philosophie über weite Strecken dominieren: nämlich als ein geistiges Etwas, das weitgehend isoliert und für sich alleine existiert, sich nur seiner subjektiven Gedanken („Ideen“), Wahrnehmungen und Gefühlen absolut gewiss sein kann, nicht aber die anderen Menschen, Lebewesen und Dinge der äußeren Realität. Die anderen Menschen, Lebewesen und Dinge der äußeren Realität müssen vielmehr aus den unmittelbar gegebenen, subjektiven Bewusstseinserlebnissen, den Ideen und Wahrnehmen, erst erschlossen werden.
Descartes‘ Anspruch ist es, die res cogitans zum absolut gewissen Ausgangspunkt zu machen, um so der Wissenschaft ein sicheres Fundament zu geben. Bei seinem Versuch dazu greift er aber nicht nur auf die res cogitans zurück, sondern benötigt auch das, was er „eingeborene Ideen“ nennt, die man mittels der „natürlichen Vernunft“ klar und deutlich erkennen könne. Beispiele für derartige „eingeborene Ideen“, die er selbst explizit nennt, sind:
- das Konzept der Substanz (als Träger verschiedener Eigenschaften),
- die Idee Gottes als vollkommenen, allmächtigen, allwissenden, gütigen Wesens,
- die Aussage, dass alles was ist, eine Ursache haben muss,
- die Aussage, dass jede Ursache mindestens so real sein muss, wie ihre Wirkung,
Was er nicht explizit nennt, aber sicherlich mit zu den „eingeborenen Ideen“ zu zählen ist, sind
- die Gesetze der Logik.
Da Descartes all diese „eingeborenen Ideen“ nicht aus der res cogitans heraus erklären kann, muss man konstatieren, dass er eigentlich mit seinem Versuch, die gesamte Wissenschaft ausschließlich mit der res cogitans zu begründen, gescheitert ist. Recht besehen ist es nicht einsichtig, warum er nicht sofort mit all den genannten „eingeborenen Ideen“ beginnt und sie als Fundament seiner Philosophie macht. So werden tatsächlich Spinoza und Leibniz vorgehen, wenngleich auch bei ihnen die cartesische res cogitans ein wichtiger Bestandteil ihrer jeweiligen Systeme sein wird: Bei Spinoza als Attribut der einen göttlichen Substanz, die pantheistisch das gesamte Universum durchdringt, bei Leibniz als Monade.
Um seinen Versuch, die gesamte Wissenschaft durch die res cogitans zu begründen, hätte Descartes alternativ versuchen müssen, all seine angeblichen „eingeborenen Ideen“ alleine aus der res cogitans herzuleiten. Einen solchen Versuch hat Descartes nicht unternommen, wohl aber später John Locke, als auch Immanuel Kant.
Aber auch folgendes kann man kritisieren.
Wie gesagt, betrachtet Descartes das Ich als singulären Punkt, für den die eigene Existenz, sowie die einzelnen Bewusstseinsakte als einzig gewiss gelten. Die res cogitans ist eine einsame Realität für sich und jeder Bezug auf etwas, das von dem Ich verschieden ist, sozusagen außerhalb der res cogitans liegt, muss jetzt als rätselhaft erscheinen. Exakt dies sollte ja durch das Gedankenexperiment erreicht werden. Dann ist es aber auch rätselhaft, wie man eine Idee von Gott bekommen kann.
Dieses Rätsel entsteht nur, wenn man das Ergebnis des Zweifle-an-Allem-Experiments verabsolutiert, und sich seinem normalen Leben gewissermaßen entfremdet. Denn sobald ich dieses Experiment abbreche und mich wieder in den Normalmodus zurückbegebe, liegt es ja auf der Hand: Ich kenne deswegen den Begriff „Gott“ und „höchste Vollkommenheit“, weil ich in einer Gemeinschaft lebe, in der solche Begriffe verwendet werden, und ich entsprechend erzogen worden bin. Für diese Erkenntnis benötigt man keine Axiome oder schwer zu verstehende Schlussketten. Und alleine dadurch, dass ich so erzogen worden bin, dass ich die Idee Gottes haben kann, ist noch lange nicht die Existenz Gottes bewiesen.
Kritisch kann man auch anmerken, warum ein mächtiger böser Geist imstande sein soll, die Gültigkeit mathematischer Theoreme zu vernebeln, aber die angebliche Unmittelbarkeit des Bewusstseinsstroms nicht. Wenn ich solch extreme Positionen einnehmen kann, dann könnte ich theoretisch auch daran zweifeln, dass ich tatsächlich gerade das und das denke, – möglicherweise wird es mir ja nur vorgetäuscht, so zu denken, so dass wir in einen unendlichen Regress kämen.
Noch kritischer ist folgender Punkt. Descartes versetzt sich mit dem Zweifle-an-Allem-Experiment in eine vollständig unnormale, künstliche Position. Die ganze Welt, alle Dinge, alle Menschen, selbst der eigene Körper werden negiert, und es bleibt nur ein singulärer, einsamer Punkt, das eigene Bewusstsein, das als das einzig unumstößlich Wahre zu gelten hat. Ja, man kann dieses Gedankenexperiment machen und sozusagen probehalber eine solche Position einnehmen: Nur mein denkendes Ich existiert, und alles andere um mich herum ist bloßer Schein. Problematisch aber wird es, wenn man diese künstliche Position für die eigentlich normale erklärt, – wenn man annimmt, dass das Ich schon immer, also bereits vor dem Gedankenexperiment, und auch fortwährend danach, ein solcher einsamer Bewusstseinspunkt gewesen ist und immer sein wird, für den die äußere Welt nur von zweifelhafter Realität ist.
Descartes verallgemeinert das Ergebnis eines äußerst künstlichen Gedankenexperiments, von dem er selbst sagt, dass man es nur mit großer Anstrengung durchführen kann, mit der Absicht, eine sichere Grundlage für die philosophische Erkenntnis zubekommen. Tatsächlich aber legte er damit den Grundstein für unzählige philosophische Probleme und Verwirrungen[1].
Wie auch immer. Descartes meint, dass das Gedankenexperiment, an allem zu zweifeln, am Ende zu der Unumstößlichkeit der res cogitans führen würde. Ich denke, also bin ich.
Beide Methoden, Selbstreflexion und Gedankenexperiment, haben einen klar nicht-deduktiven Charakter. Bei der Selbstreflexion wird das eigene Bewusstsein beobachtet und beschrieben, und eine solche Beschreibung kann mehr oder weniger zutreffend und genau sein, sie ist aber nicht rational beweisend. Ebenso wird beim Gedankenexperiment nichts logisch erschlossen, sondern es werden gedanklich Dinge konstruiert bzw. mentale Operationen ausgeführt, um daraus zu Einsichten zu gelangen.
[1] Siehe dazu das sehr aufschlussreiche Buch von Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes [65].

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