Aristoteles im Vergleich zu Platon

Zunächst gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen Platon und Aristoteles.

Beide Philosophen setzen auf das rational-logische Argumentieren. Beide halten es für möglich, dass die Philosophie zu ähnlich unum­stößlichen Erkenntnissen kommen kann wie die Mathematik. Und beide halten dafür einen men­talen Akt, die Vernunfteinsicht, für grundlegend. Interessant ist auch, dass der Gegenstand dieser Vernunft­ein­sicht bei beiden sehr ähnlich ist. Bei Platon ist es eine Idee, bei Aristoteles das (allgemeine) Wesen.

Der Unterschied besteht nur darin, dass Platon eine Idee eine unabhängige, eigenständige Existenz zuschreibt, un­ab­hän­gig davon, ob irgendetwas an dieser Idee teilhat oder nicht. Man erinnere sich an den idealen Staat, den Platon in der Politeia entworfen hat und für den er Gültigkeit beansprucht, auch wenn er in der Praxis nicht realisierbar ist. Für Aristoteles können allgemeine Wesen, wie der ideale Kreis oder der Mensch im Allgemeinen, nicht unabhängig sein. Sie sind vielmehr immer nur, insofern es einzelne sinnlich wahrnehmbare Kreise und ein­zel­ne, konkrete Menschen gibt.

Man könnte es so formulieren: Aristoteles nimmt die platonischen Ideen aus dem Ideen­himmel und setzt sie entweder ins Innere der Einzeldinge oder als abstrakte Eigenschaften an die Einzeldinge. Was ist Sokrates? Antwort: Ein Mensch. Begründung nach Platon: Weil Sokrates an der unabhängigen Idee des Menschseins teilhat. Begründung nach Aristoteles: Weil in Sokrates etwas ist, das ihn dem Wesen nach zu einem Menschen macht.

Deswegen braucht Aristoteles auch die Induktion, um von Einzeldingen zur Wesenserkenntnis zu gelangen. Weil es unabhängig von den Einzeldingen gar kein Wesen gibt. Platon hingegen muss sich geistig nur nach innen wenden, um sich an die Ideen zu „erinnern“, wozu er keinerlei konkrete Dinge wahrnehmen muss.

Man kann immer wieder lesen, dass Platon für das abstrakt Theoretische steht und Aristoteles für die empirisch orientierte Wissenschaft. Sicherlich richtig ist, wie oben bereits ausgeführt, dass Aristoteles‘ Philosophie die augenscheinliche Alltagserfahrung rechtfertigt, zum Teil sogar mehr als die heutige Physik. Richtig ist aber auch, dass Aristoteles mit seinen Theorien ständig das rein Beobachtbare überschreitet. Wenn Aristoteles beispielsweise sagt, dass die Sonne in einer Kreisbahn um die Erde läuft, dann konnte er das nicht beobachten, sondern es war einfach eine Vermutung, die gut in sein theoretisches Konzept passt. Ebensowenig konnte er empirisch beobachten, dass irgendwelche „Ausdünstungen“ in die Erde dringen und wie sie dort unten ganz konkret zu Erdbeben führen. Auch das ist letztlich eine theoretische Vermutung. Auch seine Lehren von der Materie und vom Kosmos konnte Aristoteles nur mit einer gehörigen Portion Anti-Empirismus für wahr halten.

4 Kommentare
  1. Hans sagte:

    Zitat: “Deswegen braucht Aristoteles auch die Induktion, um von Einzeldingen zur Wesenserkenntnis zu gelangen. Weil es unabhängig von den Einzeldingen gar kein Wesen gibt. Platon hingegen muss sich geistig nur nach innen wenden, um sich an die Ideen zu „erinnern“, wozu er keinerlei konkrete Dinge wahrnehmen muss.”

    Dazu hätte ich einen Verbesserungsvorschlag: da für Platon die Ideenwelt eine reale Welt ist, denn der Geist ist für ihn das Sein und das Sein ist das Reale. Dieses Reale ist aber nicht in ihm, sondern ausserhalb. Er erschaut praktisch die Ideen als Wesen ausserhalb von ihm, was damals noch möglich war.

    Auch hatte Aristoteles diese “Schau”, aber Schau nicht als Phantastik, sondern Schau als ein Ergebnis eines tiefen Denkens (wobei noch zu klären wäre, ob das oder dieses Denken das Denken ist, das dem Intellektualismus entspricht, was ich stark bezweifle) zu sehen, deshalb denke ich nicht, dass es Vermutungen sind, die er geäussert hat. Dazu war er ein zu klarer Denker, Vermutungen waren auch für ihn kein Sein.

    Da ich ganz neu hier bin und auf der Suche nach einem Austausch zu diesem Thema, würde mich interessieren, wie ihr meine Idee dazu seht.

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    • peterreins sagte:

      Sie schreiben: “[Platon] erschaut praktisch die Ideen als Wesen ausserhalb von ihm, was damals noch möglich war.” Was ich nicht verstehe: soll dieses Erschauen damals möglich gewesen sein, heute aber nicht?

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      • Hans sagte:

        Ja, genau so sehe ich das. Ich weiss aber auch, dass diese Aussage gewagt ist. Zu beweisen wird diese Aussage letzendlich auch nicht sein, aber aus einer Logik lässt es sich schon erklären. Und diese Logik geht in die Richtung, dass wir Menschen uns immer mehr der Welt hingewendet haben, mit allen ihren Vor- und Nachteilen der technischen Errungenschaften und dabei etwas zurückgelassen haben. Dies ist die Schau, die damals bei Platon z.B. noch vorhanden war. Dies ist aber nicht negativ zu sehen, denn dadurch haben wir die Möglichkeit bekommen, die Materie bis in die kleinsten und weitesten Ecken zu erforschen. Dadurch ist uns halt eine gewisse Einsicht in die andere Richtung, in die geistige Welt, verloren gegangen. Das kann man auch erkennen, wenn man Platon liest, was die Menschen damals besprochen haben und wie die Menschen damals im Dialog miteinander umgegangen sind. Dass damals die Götter noch mehr in den Alltag einbezogen wurden. Hat sich da nicht etwas verändert?

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        • peterreins sagte:

          Es gibt zwei Möglichkeiten, sich mit einem philosophischen (oder auch religiösen) Text zu beschäftigen.
          Entweder a): Man glaubt daran, dass in dem Text Wahrheiten wiedergegeben werden, die man zwar nicht 100%ig selbst versteht. Auch die Argumente für die Gültigkeit diese Wahrheiten kann man nicht rational nachvollziehen. Dennoch aber hält man daran fest, dass der Autor Erkenntnisfähigkeiten und einen Zugang zur Wahrheit hatte, die einem selbst (bzw. heutigen Lesern generell) verschlossen sind. Viele Menschen glauben auf diese Weise z.B. an die Bibel oder an den Koran. Es ist ein Zugang des Glaubens, aber nicht der rationalen Auseinandersetzung mit dem Text.
          Oder b): Man geht davon aus, dass der Autor des Textes keine prinzipiell anderen Erkenntnisfähigkeiten hatte als wir heute haben. Unter dieser Annahme können wir versuchen, den Text vollständig verstehen zu können. Oder anders: Falls der Text tatsächlich etwas Wahres zum Ausdruck bringt, dann müsste es – unter dieser Annahme – prinzipiell auch für uns möglich sein, diese Wahrheit zu erkennen. Man muss nicht einfach daran glauben, sondern kann es selbst nachvollziehen, was in dem Text gesagt wird und warum die Argumente gültig sind oder nicht.
          Wenn ich Sie richtig verstanden habe, meinen Sie, dass Platon andere Erkenntnisfähigkeiten hatte als uns heutigen zur Verfügung stehen. Unser Erkennen habe sich sozusagen durch das moderne Leben und technische Errungenschaften verändert. Damit hätten Sie einen Zugang a) zu Platons Texten. Platon hätte demnach mittels seiner “Ideenschau” einen Zugang zur Wahrheit gehabt, den wir Heutigen nicht mehr haben. Und das, was er schreibt müssen wir einfach als wahr anerkennen, ohne dass wir es selbst nachvollziehen können. Wir müssen einfach daran glauben, dass Platon die Wahrheit geschrieben hat, ohne dass wir die Gründe dafür überprüfen könnten. Die Texte Platons hätten somit den Status von religiösen Schriften und Platon wäre eine Art Prophet, dessen Zugang zur Wahrheit uns letztlich verschlossen ist.
          Wenn Sie einen solche Auffassung zu Platon haben, soll es mir recht sein. Ich für meine Person kann das aber nicht so halten. Ich gehe klar den Weg b). Ich gehe prinzipiell davon aus, dass Platons Geistesfähigkeiten denen entsprechen, die wir heute haben. Und dass wir heute die Möglichkeit haben, Platons Argumente nachzuvollziehen, – im positiven wie im negativen. Wo er etwas Wahres sagt, können wir es auch als solches erkennen. Und wenn er sich geirrt hat, dann können wir diesen Irrtum finden. Wenn ich diese Annahme nicht machen würde, dann hätte für mich die Beschäftigung mit Platon keinen Sinn. Wenn ich Platon lese, dann nicht in der ehrfürchtigen Haltung, hier unhinterfragbare Wahrheiten zu lesen, sondern in einer kritischen Haltung: Was kann ich rational nachvollziehen, was nicht? Natürlich wird das durch verschiedene Faktoren erschwert: Es gibt die Hürde der unterschiedlichen Sprache. Die Hürden, dass die antike Gesellschaft anders war also unsere heutige, dass andere Dinge als “Selbstverständlichkeiten” galten als heute. Für uns gebildete Europäer ist es z.B. eine “Selbstverständlichkeit”, dass sich die Erde um die Sonne dreht, was in der Antike alles andere als klar war. Nun ist es so, dass es genau hilft, die Menschen von früher besser zu verstehen, wenn wir berücksichtigen, von welchen selbstverständlichen Voraussetzungen sie damals ausgingen, die uns heute vielleicht eher fremd sind. Wenn man diese Art von Selbstverständlichkeiten aufdeckt, dann können wir sie uns sozusagen wie eine Brille aufsetzen, um dann die Welt ansatzweise so zu sehen, wie ein antiker Grieche. Wenn man nicht davon ausgeht, dass dies in irgendeiner Form bis zu einem gewissen Grade machbar ist, dann braucht man sich erst gar nicht mit antiker Literatur zu beschäftigen. Umgekehrt ist auch das genau das Spannende daran, sich mit antiken Texten zu beschäftigen: wenn man merkt, wie und in welchen Punkten sich die Denkweise der damaligen Menschen von unserer heutigen unterschieden hat.
          Ein wichtiger Punkt, den ich mir diesem Weblog verfolge, besteht darin, auf einen bestimmten Unterschied in der Denkweise von früher und heute hinzuweisen. In der Antike war das Vertrauen in logisch-rationale Schlussketten viel höher, als es für die meisten von uns heute ist. Und umgekehrt, halten wir Heutige empirische Belege für viel überzeugender, als es antike Gebildete taten. Diese hohe Bewertung des rationalen Arguments und die starke Unterbewertung der Empirie zieht sich wie ein roter Faden durch die antike philosophische Literatur. Und genau das macht es uns Heutige oft so schwer, einen Text von Aristoteles oder auch einen Text Epikurs zu verstehen. Weil wir uns normalerweise fragen: Warum argumentiert er denn so ewig mit rationalen Argumenten, mit Beweisen und allgemeinen Prinzipien, was doch eigentlich durch ein einfaches Experiment belegbar oder widerlegbar wäre.
          Hierzu zum Schluss eine kleine Anekdote: Diogenes (413-323 v.Chr.) trug vor ein paar seiner Schüler das Argument der Eleaten vor, dass es rein logisch betrachtet keine Bewegung geben könne. Danach stand er auf und lief einfach ein paar Mal hin und her und gab vor, so das eleatische Argument widerlegen zu wollen. Als einer seiner Schüler mit diesem Argument einverstanden war, schlug ihn Diogenes mit einem Stock und sagte: „Vertraue nicht der sinnlichen Gewissheit, solange sie noch nicht in das System der logischen Deduktion Eingang gefunden hat!“ – Trägt man einem Heutigen das Paradoxon z.B. von Achill und der Schildkröte vor, dann hält dies fast niemand für überzeugend. Stattdessen wird fast jeder: “Dass es Bewegung gibt, und dass der schnellere Achill die Schildkröte irgendwann einholen wir, ist doch eine offensichtliche empirische Tatsache. Also muss in dem Paradoxon irgendwo ein logischer Fehler sein.”
          Das ist ein Unterschied in antiker und moderner Denkweise (zu der sicherlich die jeweils übliche Ehrziehung beigetragen hat). Aber dieser Unterschied ist nachvollziehbar und man kann antike Texte besser verstehen, meine ich, wenn man hier sozusagen die Brille wechselt.

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