Aristoteles: Die Zweite Analytik – die Mathematik als Vorbild

Für mein Anliegen ist die Zweite Analytik von ganz besonderer Bedeutung, da sie die Wissen­schafts­theorie des Aristoteles darstellt.

Aristoteles führt darin aus, wie man seiner Auffassung nach zu sicheren wissen­schaft­lichen Erkenntnissen kommt. Das Wissenschaftsmodell, das Aristoteles hier entwirft, hat die Philosophiegeschichte über viele Jahrhunderte hinweg bis ins 19. Jahrhundert bestimmt. Selbst die neue Physik Galileis oder Newtons lehnen sich an dieses Modell an.

Man kann immer wieder lesen, dass Aristoteles ein problematisches Verhältnis zur Mathematik gehabt hätte.  So gibt es Textstellen, bei denen er sich ausdrücklich gegen sie auszusprechen scheint. Beispielsweise schreibt er in der Physik (Buch II 2), was den Naturphilosophen von dem Mathematiker unterscheidet[1]:

„Wenn es doch Aufgabe des Naturphilosophen ist zu wissen, was Sonne oder Mond wirklich sind, sollte er sich dagegen um die ihnen wesentlich zukommenden Eigenschaften nicht kümmern, so wäre das unsinnig; zumal doch ganz offenkundig die Physiker über die Form von Mond und Sonne sprechen, und auch über die Frage, ob die Erde oder die ganze Welt kugelförmig ist oder nicht. Hiermit befasst sich nun auch der Mathematiker, allerdings nicht insoweit dies alles Begrenzung eines natürlichen Körpers ist; und auch die Eigenschaften betrachtet er nicht, insofern sie ihnen als eben derartigen zutreffen; deswegen verselbständigt er sie auch, denn sie sind im Denken von der allgemeinen Veränderung der Dinge abtrennbar, und das macht überhaupt keinen Unterschied, und es ergibt sich nichts Falsches, wenn man sie abtrennt […].

Die Geometrie betrachtet ja eine tatsächlich hingezeichnete Linie, aber nicht insofern sie diese Beschaffenheit hat; umgekehrt, die Lehre vom Sehen untersucht eine mathematische Linie, aber nicht insofern sie mathematisch ist, sondern insofern sie ein Naturverhältnis darstellt.“

Aristoteles behauptet hier, dass die Mathematik keine Wesenserkenntnis natürlicher Dinge erlaubt. Naturdinge haben mathematische Formen nur als Eigenschaften, aber das, was sie wesensmäßig sind, wird dadurch nicht erkannt. Ein Stein mag beispielsweise wie eine Kugel geformt sein; dieselbe Form könnte aber auch ein Stück Holz oder ein Klumpen Lehm haben. Fragt jemand jeweils: „Was ist es?“, dann wird mit der Antwort „eine Kugel“, nicht das gesagt, was das Ding wirklich ist, sondern nur eine gewissermaßen zufällige äußere Eigenschaft. Will man die Was-ist-Frage aber so beantworten, dass man das jeweilige Wesen des Dinges angibt, dann müsste man sagen: Es ist ein Stein, ein Stück Holz oder ein Klumpen Lehm. Sie haben zwar zufälligerweise alle drei dieselbe Gestalt; das ist aber für das jeweilige Naturding nicht wesentlich.

Ähnlich ist es, wenn man bezogen auf ein Lebewesen fragt: Was ist es? Und wenn man antwortet: „es ist 50 cm groß“, dann weiß man immer noch nicht, was es ist. Das weiß man erst dann, wenn beispielsweise gesagt wird, dass es ein Hund ist. Und ob ein Lebewesen ein Hund ist, dafür ist es ziemlich egal ob es 50 cm, 30 cm oder 100 cm groß ist.

Der Mathematiker hingegen trennt die geometrische Gestalt, Größe oder Zahl vom Naturding ab und verselbständigt sie, so dass er nur noch von der Kugel als solcher bzw. der Größe als solcher spricht, egal welcher tatsächliche Gegenstand entsprechend gestaltet ist. Eine solche verselbständigte Eigenschaft als solche macht der Mathematiker zum Gegenstand seiner Untersuchungen.

Ist die Mathematik also nach Aristoteles überhaupt keine Wissenschaft? Nein, das kann man nicht sagen. Die Mathematik ist keine Natur-Wissenschaft im aristotelischen Sinne. Wohl aber ist sie eine Wissenschaft bezogen auf die von den Naturdingen abstrahierten geometrischen Figuren. Auf ähnliche Weise ist auch die Medizin keine Natur-Wissenschaft im aristotelischen Sinne. Wohl aber eine Wissenschaft bezogen auf das von den Lebewesen abstrahierte Eigenschaft der Gesundheit.

Sowohl die oben zitierten Stelle, als auch andere Textstellen[2] belegen, dass Aristoteles die Mathematik ganz klar für eine Wissenschaft hält, aber eben keine, die in das Wesen der natürlichen Dinge blicken kann; wie gesagt, wird durch die Angabe von geometrischen Formen oder quantitativen Größen Was-ist-Fragen nicht zufriedenstellend beantwortet.

Bemerkenswert ist nun, dass Aristoteles offenbar die Mathematik nicht nur als Wissenschaft anerkennt, sondern ihr tatsächlich auch eine Vorbildfunktion gibt. In der Zweiten Analytik beschreibt er, was eine Wissenschaft als Wissenschaft auszeichnet. Und wenn man diese Schrift durchliest, dann fällt auf, dass Aristoteles darin ständig auf die Mathematik verweist. Schon der dritte Satz lautet: „Denn wie die mathematischen Wissenschaften auf diese Weise erworben werden, so auch jede der übrigen Künste.“ Fast in jedem Kapitel werden die gemachten Er­klä­rungen mit Beispielen aus der Mathematik unterlegt. Ich habe mindestens 27 derartige Stellen gezählt. Dagegen gibt es nur sehr wenige Stellen, bei denen Aristoteles Beispiele aus dem naturphilosophischen Bereich gibt. Diese starke Häufung weist darauf hin, dass Aristoteles die Mathematik als Leitbild für sein Wissenschaftsmodell ansieht.

In der Zweiten Analytik will Aristoteles klären, wie sichere, d.h. unumstößlich wahre Wissenschaft möglich ist. Eine solche Wissenschaft nennt er apodiktisch. Sein Ziel ist ausdrücklich, dass jede Art von Wissenschaft zu absolut sicheren Erkenntnissen kommt. Ohne Zweifel geht es ihm nicht nur um „wahr­schein­liches“ Wissen, sondern um vollständig wahres Wissen, und zwar in ausdrücklicher Analogie zur Mathematik. So wie die Mathematik mit ihren Methoden zu unumstößlichen Wahrheiten gelangt, so soll man auch in anderen Bereichen, wie z.B. der Physik oder Biologie, zu sicheren Wahrheiten gelangen. Aristoteles‘ Anspruch ist definitiv viel höher, als der der heutigen Naturwissenschaften. Seine Frage ist: Wie muss Wissenschaft aufgebaut und gestaltet sein, damit ähnlich unumstößlich wahre Erkenntnisse möglich werden wie mathematische Erkenntnisse. So schreibt er[3]: „Alles vernünftige Lehren und Lernen geschieht aus einer vorangehenden Erkenntnis. Man sieht das, wenn man es im Einzelnen betrachtet. Denn wie die mathematischen Wissenschaften auf diese Weise erworben werden, so auch jede der übrigen Disziplinen.“ Dass somit die Mathematik für Aristoteles Vorbildfunktion hat, scheint mir offensichtlich.

[1] siehe auch Met VI 1, 1026 a 19.

[2] Siehe z.B. Met. VI 1 oder Met. XIII.

[3] Aristoteles An.Post. 71a.

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