Descartes‘ Versuch einer Begründung der Naturwissenschaft

Descartes gilt als Begründer der neuzeitlichen Philosophie, weil er den Blick aufs erkennende Subjekt gelenkt hat.

Die Philosophen vor ihm glaubten entweder durch Nachdenken oder durch sinnliche Erfahrung einen direkten Bezug zur Realität zu erhalten. Durch sein systematisches Zweifeln, das Descartes an den Anfang seiner Philosophie stellte, wurde dies in Frage gestellt. Man kann sich fragen, wie sicher man sich dessen ist, was man gerade wahrnimmt, erfühlt, hört oder sieht. Alles könnte erträumt oder von einem bösen Geist vorgetäuscht sein. Alles, wovon ich mir normalerweise sicher bin, könnte bloßer Schein sein.

Möglicherweise war Descartes bei diesen Überlegungen von dem Atomismus inspiriert, der zu seiner Zeit von vielen Naturforschern angenommen wurde. Demnach besteht die materielle Welt aus kleinsten Partikeln, die sich im Wesentlichen nur durch geometrische Figur, Größe und Art der Ortsbewegung unterscheiden. Jeder Körper ist nur eine Zusammensetzung vieler solcher Teilchen. Außerdem strahlen sie beständig atomare Partikel ab, die, sobald sie auf unsere Sinnesorgane treffen, bei uns Wahrnehmungen erzeugen. Allerdings sind diese Wahrnehmungen ganz anderer Natur als die Partikel, durch die sie erzeugt werden. Beispielsweise könnte es sein, dass bestimmte kugelförmige Teilchen, wenn sie auf unsere Retina treffen, eine Rotwahrnehmung verursachen. Wir erkennen somit nicht diese Teilchen selbst, wie es an sich der Realität entspricht, sondern glauben scheinbar einen roten Gegenstand zu sehen. So unterscheidet der Atomismus zwischen einer realen Welt der kleinsten Teilchen, wie sie für uns direkt nicht wahrnehmbar ist, und einer scheinbaren Welt der subjektiven Wahrnehmungen. Obwohl die atomaren Teilchen empirisch nicht zu erkennen sind, glaubten die Atomisten dennoch, ihre Lehre mit Vernunftgründen belegen zu können.

Wohlgemerkt, Descartes selbst war kein Atomist, aber offensichtlich legt der Atomismus den Gedanken nahe, dass die tatsächliche Welt, wie sie an sich ist, von unserer subjektiven Welt, wie wir sie jeweils individuell wahrnehmen, verschieden ist. Und das cartesische Zweifeln kommt in einem ersten Schritt genau zu diesem Ergebnis. In einem zweiten Schritt geht Descartes aber über die bisherigen Lehren hinaus. Ja, wir können uns zwar bei allem, was wir erkennen, denken, wahrnehmen, erfühlen, hören, sehen etc. nicht sicher sein, ob wir uns nicht vielleicht täuschen. Aber wir wissen mit absoluter Gewissheit, dass wir gerade erkennen, denken, wahrnehmen, etc. Der Gegenstand des Erkennens ist zweifelhaft, der subjektive Erlebnisstrom aber des Denkens, Sehens, Hörens etc. ist unzweifelhaft.

In einem weiteren Schritt meint Descartes, dass es einheitlichen Träger all dieser Erlebnisse gebe müsse: das eine erkennende Subjekt, für das all diese Bewusstseinserfahrungen sind. So schließt Descartes vom „ich denke“ auf das „ich bin“. Ich denke, also bin ich.

Damit setzt Descartes der materiellen, äußeren Welt ein erkennendes Subjekt, samt seinen subjektiven, inneren Bewusstseinserlebnissen entgegen. Dieser Dualismus wird die neuzeitliche Philosophie über lange Zeit prägen. Descartes initiiert damit aber auch eine Trennung zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, die bislang eine Einheit gebildet hatten. Im praktischen Alltag eines Naturwissenschaftlers, sei es beim Experimentieren oder beim Aufstellen einer Theorie, spielte der cartesische Dualismus zwischen Subjekt und objektiver Außenwelt keine Rolle. Der Wissenschaftler ist natürlicherweise ein Realist in dem Sinne, dass er immer anstrebt, die Dinge so zu erkennen, wie sie an sich sind. Wenn der Philosoph sagt, dass das naiv sei, und ja theoretisch die ganze Natur eine gigantische Täuschung sein könnte, und man zunächst erst philosophisch klären müsse, inwiefern die materielle Welt überhaupt erkennbar ist, dann stößt das bei einem praktisch arbeitenden Wissenschaftler auf Unverständnis.

Descartes und einige Philosophen nach ihm meinten, die Naturwissenschaft philosophisch begründen zu müssen. Diese Versuche sind philosophisch interessant, blieben aber weitestgehend ohne Bedeutung für die Naturwissenschaften selbst. Sie wurden vielmehr zunehmend als illegitime Bevormundung empfunden. Die Naturwissenschaftler erforschten einfach die Natur, um zutreffende Theorien aufzustellen; sie wollten aber von keinem Philosophen erklärt bekommen, inwiefern das, was sie tun, überhaupt zulässig ist. Der Höhepunkt dieser Einmischung wird mit Hegels Philosophie erreicht. Nach Hegel gab es mit Mill und Comte Philosophen, die die Philosophie nicht mehr als Herrin über die Naturwissenschaften, sondern als deren Dienerin auffassten.

Der erste Versuch, die Naturwissenschaften philosophisch zu begründen, hat freilich Descartes gegeben. Sein Gedankengang war wie folgt. Durch das Zweifle-an-Allem-Gedankenexperiment gelangt man zu der Einsicht, dass alleine das Ich und seine subjektiven Bewusstseinserlebnisse unumstößlich sicher sind, jeder erkannte Gegenstand aber anders sein kann als gedacht. Damit könnte jede Naturwissenschaft einer haltlosen Täuschung unterliegen. Nun glaubte Descartes, aus der absoluten Gewissheit des Ichs die Existenz Gottes beweisen zu können. Die Idee ist, dass nach Descartes klar ist, dass das Ich sich nicht selbst erzeugt haben kann, sondern dass es eine Ursache für seine Existenz geben muss, die wiederum notwendig das vollkommenste Wesen, also Gott ist.

Nachdem Descartes die Existenz Gottes bewiesen zu haben glaubt, meint er, dass die vollkommene Güte Gottes gewährleistet, dass unserer Erkenntnis dann eine Realität entspricht, wenn sie klar und deutlich ist. Es könne nicht zu Gottes Vollkommenheit passen, dass man einen Sachverhalt klar und deutlich erkennt und er dann dennoch eine Täuschung ist.

Die Konsequenz daraus ist, dass nur das, was mathematisch oder logisch-rational intuitiv einsichtig oder beweisbar ist, wahr im eigentlichen Sinne sein kann. Auf diese Weise gelangt Descartes zu seinem rationalistischen Wissenschaftsmodell.

Indem Descartes die Aufmerksamkeit auf das Ich und seine subjektiven Erfahrungserlebnisse gelenkt hat, hat er auch neue Methoden der Erkenntnis eingeführt, nämlich die Selbstbeobachtung und das (cartesische) Gedankenexperiment. Seine Meditationes haben beispielsweise über weite Strecken den Charakter eines Selbst­gesprächs. So beginnt die erste Meditation mit den Worten: „Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches ich in meiner Jugend als wahr habe gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut habe … Und da trifft es sich günstig, dass ich heute meinen Geist von allen Sorgen befreit habe […]“. Diese Art von Monolog ist eine Selbstbeobachtung oder Selbstreflexion. Descartes beobachtet und beschreibt seine eigenen Gedanken, Gefühle, Absichten etc.

Manchmal beobachtet er aber nicht nur, wie man in normalen Situationen denkt und wahrnimmt, sondern führt innere Gedankenexperimente aus. Dabei handelt es sich um künstlich herbeigeführte innere Beobachtungen, die man mit Anstrengung machen muss, weil sie unserem gewohnten Denken und Wahrnehmen zuwiderlaufen. Das cartesische, systematische Zweifeln an allem ist ein Musterbeispiel für ein solches Gedankenexperiment.

Das cartesische Gedankenexperiment ist jedoch von dem physikalischen Gedankenexperiment zu unterscheiden, wie man es z.B. Galilei oder Newton findet. Galilei macht das Trägheitsprinzip beispielsweise dadurch einsichtig, dass er eine unbegrenzte, perfekt ebene und glatte Fläche annimmt, auf der man einer perfekten Kugel einen Stoß gibt. Damit nimmt er Idealisierungen vor bezogen auf die Dinge der äußeren, materiellen Wirklichkeit. Bei einem cartesischen Gedankenexperiment erforscht man hingegen die innere, geistige Realität.

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