Was man nach John Locke wissen kann

Der englische Arzt und Philosoph John Locke (1632-1704) hat einiges von dem, was Descartes begonnen hatte, aufgegriffen und weiterentwickelt.

Eines seiner Hauptwerke ist:

  • Essay Concerning Human Understanding, veröffentlicht 1690. Auf Deutsch: Versuch über den menschlichen Verstand. In zwei Bänden. Felix Meiner Verlag, 1981. Nachfolgend kurz: Essay.

Locke war mit Newton befreundet, dessen bahnbrechenden Prinicpia nur drei Jahre vor Lockes Essay veröffentlicht wurden. Locke spricht voller Hochachtung von Newtons Werk und hält darin alles für bestens bewiesen. Allerdings scheint er Newtons Physik als eine Art von Mathematik zu verstehen[1]. Außerdem experimentierte Locke und forschte als chemischer Naturwissenschaftler im Sinne Boyles[2]. Daher ist es nicht erstaunlich, dass Locke ein Bild von der materiellen Wirklichkeit hatte, das dem damals gängigen Atomismus nahesteht. Demnach besteht die Wirklichkeit aus atomaren Partikeln, die sich nur durch Gestalt, Größe und Art der Ortsbewegung unterscheiden. Jeder Körper ist nur eine Zusammensetzung vieler solcher Teilchen. Wir nehmen die Dinge deswegen wahr, weil sie beständig atomare Partikel abstrahlen, die, sobald sie auf unsere Sinnesorgane treffen, bei uns Sinneseindrücke erzeugen. Die Sinnesorgane sind dabei vollkommen passiv. Locke nennt diese Partikulartheorie „physikalisch“ und hält sie, wohl im Gegensatz zu den meisten Naturwissenschaftlern seiner Zeit, für nur hypothetisch.

Das tut er nämlich deswegen, weil er ähnlich wie Descartes seine Philosophie mit dem erkennenden Subjekt beginnen lässt. Beide sind sich einig darüber, dass das Ich und seine subjektiven Bewusstseinserlebnisse, die Locke „Ideen“ nennt, absolut gewiss und unzweifelhaft sind. Dazu im Gegensatz ist unser Wissen sowohl von den äußeren, materiellen Dingen, als auch von Lebewesen oder von anderen Menschen nur mittelbar erschlossen und unsicher. Locke stellt sich also ein Ich vor, dem zunächst nur sein Bewusstseinsstrom in einer Abfolge sogenannter Ideen gegeben ist, denn „Ideen haben und wahrnehmen ist ein und dasselbe“[3]. Beispiele für solche Ideen sind: Weiß-Wahrnehmung, Härte-Empfingen, Süßes-Schmecken, Etwas-als-Pferd-Auffassen, Etwas-als-Gold-Erkennen, etc. Diese Aneinanderreihung verschiedener Bewusst­seins­­erlebnisse oder Ideen ist nach Locke das einzige, was das Ich unzweifelhaft und absolut sicher hat:

„Da sich jedermann dessen bewusst ist, dass er denkt und dass das, womit sich sein Geist beim Denken befasst, die dort vorhandenen Ideen sind, so ist es zweifellos, dass die Menschen in ihrem Geist verschiedene Ideen haben, zum Beispiel diejenigen, die durch die Wörter Weiße, Härte, Süßigkeit, Denken, Bewegung, Mensch, Elefant … und andere mehr ausgedrückt werden.“ [4]

„Unser gesamtes Wissen besteht […] darin, dass der Geist seine eigenen Ideen beobachtet. Hierin liegt die höchste Erleuchtung und die größte Gewissheit, deren wir mit unseren Anlagen und unserer Art zu erkennen fähig sind.“ [5]

„Die erste Tätigkeit des Geistes … besteht nun darin, dass er jede von seinen Ideen einzeln erkennt und von anderen unterscheidet. Jeder beobachtet an sich selbst, dass er die Ideen kennt, die er besitzt … Da sich das immer so verhält (denn es ist unmöglich, dass man nicht wahrnimmt, was man wahrnimmt), so kann jemand, wenn eine Idee in seinem Geist vorhanden ist, unmöglich darüber Zweifel sein, dass sie sich dort befindet und dass sie eben ist, was sie ist.“

Während aber Descartes diese absolute Gewissheit des subjektiven Bewusstseinsstroms nur als Sprungbrett zu seinem Gottesbeweis verwendet, verharrt Locke dabei, um ihn genau zu untersuchen. Sein Ziel ist es, wie gesagt, aus den subjektiven Bewusstseinserlebnissen (den „Ideen“) konsequent alles, was ein Mensch wissen oder nicht wissen kann, zu erklären. Die Methoden, die er dabei anwendet, sind dieselben, die auch bereits Descartes verwendet hat: Selbstbeobachtung und Gedankenexperimente. Dabei verwendet Locke den Begriff „innerer Sinn“, den später Kant aufgreifen wird.

Jedenfalls untersucht Locke vor allem durch Selbstreflexion seine Bewusstseinserlebnisse seine „Ideen“. Man könnte ihn deswegen als Begründer einer sich selbst beobachtenden Psychologie bezeichnen. Durch seine inneren Analysen glaubt er erkannt zu haben, dass man die Ideen in vielerlei Hinsicht unterscheiden kann. Nach Locke gibt es einfache und komplexe Ideen, konkrete und abstrakte Ideen, sowie Ideen, die sich auf äußere Gegenstände zu beziehen scheinen und solche, die sich auf innere Bewusstseinserlebnisse beziehen. Außerdem versucht er bestimmte Begriffe, wie Zeit, Zahl, Raum, Kraft etc. durch Selbstreflexion zu erklären. Zum Beispiel fordert er, sich innerlich dabei zu beobachten, wir uns ununterbrochen und unaufhaltsam verschiedene Gedanken durch den Kopf gehen. Die Idee der Dauer würden wir dadurch erhalten, dass wir diese ununterbrochene Kette von Ideen reflektieren: Eine Idee, die nächste Idee, die übernächste Idee und so weiter. Andererseits vermittelt uns diese Kette auch die Idee der Zahl, im Sinne von: erste Idee, zweite Idee, dritte Idee und so weiter, und damit: Eins, Zwei, Drei, usw. Auch diese Auffassung findet man später bei Kant, wenn er schreibt, dass die Zeit die Anschauungsform des inneren Sinns ist und die Grundlage fürs Zählen und die Arithmetik ist.

Grenzen unseres Wissens

Wie gesagt vertritt Locke, wie viele seiner Zeitgenossen, eine atomistische Theorie, die die gesamte materielle Wirklichkeit aber auch die sinnliche Wahrnehmung auf kleinste, atomare Partikel zurückführt. Während Gassendi oder Boyle meinten, stichhaltige Beweise für die Wahrheit dieser Theorie zu haben, hält Locke sie nur für hypothetisch bzw. für wahrscheinlich. Für Locke steht nämlich fest, dass uns zunächst nichts anderes sicher gegeben ist, als das, was die Atomisten als subjektiven Schein bezeichnen: die individuellen, sinnlichen Wahrnehmungen. Und empirisch sind die atomaren Partikel nun mal nicht erkennbar, weder deren Form, deren Größe, deren Bewegungen oder welche Kausalitäten es zwischen ihnen gibt. Locke schreibt[6]:

„Betrachten wir nun die Kräfte der Substanzen, die sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten anderer Körper zu verändern. […] Ich bezweifle nun, ob unser Wissen hier viel weiter reicht als unsere Erfahrung. Ebenfalls bezweifle ich, ob wir durch ihren Zusammenhang mit einer der Ideen, die für uns das Wesen eines Dinges ausmachen, dazu gelangen können, dass wir die meisten dieser Kräfte entdecken und sicher sein können, dass sie sich in dem betreffenden Dinge befinden. Da die aktiven und passiven Kräfte der Körper und ihre Wirkungen auf einer Zusammensetzung und Bewegung der Teilchen beruhen, die wir auf keine Weise entdecken können, so ist es uns nur in ganz seltenen Fällen möglich, wahrzunehmen, dass sie mit einzelnen von den Ideen, die unsere komplexe Idee jener Art von Dingen bilden, im Zusammenhang oder im Widerspruch stehen. Ich habe hier mit der Korpuskulartheorie argumentiert, weil man glaubt, dass sie die einleuchtendste Erklärung für die Qualitäten der Körper bietet. Ich fürchte, die Schwäche des menschlichen Verstandes wird kaum imstande sein, eine andere an ihre Stelle zu setzen […]. Lassen wir es dahingestellt, welche Hypothese die klarste und richtigste sein mag […]: feststeht jedenfalls, dass eine jede von ihnen unser Wissen von den körperlichen Substanzen so lange nur sehr wenig fördern wird, wie man uns nicht zeigen kann, welche Qualitäten und Kräfte der Körper einen notwendigen gegenseitigen Zusammenhang oder ein notwendiges Widerstreben gegeneinander an sich haben. Bei dem gegenwärtigen Stand der Philosophie wissen wir meines Erachtens hierüber herzlich wenig. Ja, ich möchte auch bezweifeln, ob wir mit den Fähigkeiten, die wir besitzen, jemals imstande sein werden, unser allgemeines Wissen […] auf diesem Gebiet erheblich zu erweitern.“

Wir können zwar beschreiben, was wir regelmäßig an Vögeln beobachten, was uns als ihre wesentlichen Merkmale erscheinen. Aus welchen atomaren Teilchen sich aber Vögel aufbauen, und wie sie genau zusammenwirken, damit sie diese bestimmten Lebewesen sind, davon werden wir, nach Locke, kaum die Chance haben, ein genaues Wissen zu erlangen. Deswegen bezweifelt Locke, dass wahrhaftes Wissen im Bereich der Naturwissenschaften möglich ist.

Locke bezweifelt auch stark Bacons Idee, dass man durch Experimente und Induktion zu einer zuverlässigen Naturerkenntnis kommen könne. Die experimentelle Naturwissenschaft führt seiner Meinung nach bestenfalls zu einem wahrscheinlichen Glauben, niemals aber zu einer Wissenschaft im eigentlichen Sinne. So schreibt er im Essay, dass bei naturwissenschaftlichen Ideen kein Zusammenhang erkennbar sei und setzt fort[7]:

„Überall nämlich, wo uns [dieser Zusammenhang] fehlt, sind wir völlig unfähig, eine allgemeine und gesicherte Erkenntnis zu erlangen. Wir bleiben […] auf die Beobachtung und das Experiment angewiesen; dabei ist nicht nötig, darauf hinzuweisen, wie eng und beschränkt deren Gebiet ist und wie weit sie hinter einer allgemeinen Erkenntnis zurückbleiben. […] Wohl stellen wir fest, dass diese und ähnliche Erscheinungen im gewöhnlichen Verlauf der Dinge einen dauernden und regelmäßigen Zusammenhang aufweisen; jedoch ist dieser Zusammenhang in den Ideen selbst nicht erkennbar. Vielmehr scheinen diese in keinerlei notwendigem Abhängigkeitsverhältnis zueinander zu stehen.“

Durch Experiment und Beobachtung kann man also zu der Vermutung veranlasst werden, dass ein gesetzmäßiges Kausalitätsverhältnis besteht. Man kann aber auf diese Weise niemals eine notwendige Beziehung erkennen. Und daher gibt es keine sichere Wissenschaft von der Natur:

„Dieser Tatbestand verhindert es, dass wir ein sicheres Wissen von allgemeinen Wahrheiten über natürliche Körper erlangen können.“[8]

„Ich bestreite nicht, dass jemand, der an wohldurchdachte und regelmäßige Versuche gewöhnt ist, imstande sein wird, einen tieferen Blick in die Natur der Körper zu tun und zutreffendere Vermutungen über ihre noch unbekannten Eigenschaften anzustellen […] Jedoch wird es sich dabei […] immer nur um ein Annehmen und Meinen, nicht um Erkennen und Wissen handeln […] Darum bin ich geneigt zu vermuten, dass die Naturlehre sich nicht zu einer Wissenschaft ausgestalten lässt. Es scheint mir, dass wir nur ein sehr geringes allgemeines Wissen über die Arten der Körper und ihre mancherlei Eigenschaften zu erwerben vermögen. […] Unsere Anlagen sind also nicht dazu eingerichtet, in das innere Gefüge und die reale Wesenheit der Körper einzudringen.“ [9]

Bei jedem materiellen Ding erkennen wir immer nur seine äußerliche Erscheinung, wir können aber nicht hoffen, es einmal so in seiner chemisch-atomaren Zusammensetzung zu erkennen, weswegen es tatsächlich so ist, wie es ist. Die realen Kausalitätsverhältnisse sind für uns höchstens erahnbar, niemals aber haben wir ein wirklich sicheres Wissen davon. Locke nimmt hier einerseits Humes Zweifel an der Induktion vorweg, aber auch Kants Diktum, dass die Dinge an sich nicht erkennbar sind.

Was man wissen kann

Interessant ist schließlich, in welchen Bereichen Locke ein wahrhaftes Wissen für möglich hält. Über das Wissen im Allgemeinen schreibt Locke:

„Der Geist hat bei allem Denken und Folgern kein anderes unmittelbares Objekt als seine eigenen Ideen; er betrachtet nur sie und kann nur sie betrachten. Daher ist es offenbar, dass es unsere Erkenntnis lediglich mit unseren Ideen zu tun hat.“

Und anschließend definiert er Wissen als die „Wahrnehmung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung irgendwelcher Ideen.“[10] Ähnlich wie Descartes definiert Locke somit Wissen oder wahres Erkennen ohne Bezug zur Realität. Dies ist natürlich konsequent, wenn man bedenkt, dass beide die Außenwelt für zweifelhaft halten.  Das, was wirkliches Wissen sein kann, engt sich damit natürlich stark ein. Als faktische Beispiele für echtes Wissen nennt Locke erstens inhaltsleere Tautologien und zweitens die Mathematik.

Inhaltsleeres, tautologisches oder analytisches Wissen

Wenn ich eine Idee habe, die ich mit „A“ bezeichne, dann ist „A ist A“ ein tautologisches Wissen. Falls ich eine weitere Idee B habe, von der ich intuitiv erkenne, dass sie mit A identisch ist, dann ist auch „A ist B“ ein tautologisches Wissen. Habe ich schließlich eine Idee C, von der ich intuitiv erkenne, dass sie von A verschieden ist, dann ist „A ist nicht C“ ein tautologisches Wissen. Hat man eine Idee N definiert durch andere Ideen X, Y, Z, dann ist natürlich auch eine Aussage der Form „N ist X“ ein tautologisches Wissen. Jedes Mal weiß ich etwas, ohne weiteren Bezug zur Realität. Offenbar muss man hier nur überprüfen, ob zwei Ideen übereinstimmen oder nicht. Kant wird solch ein Wissen später „analytisch“ nennen.

Erkenntiserweiterndes, synthetisches mathematisches Wissen

Als typisches Beispiel für Wissen nennt Locke immer wieder die Geometrie und hier insbesondere das Theorem, dass die Winkelsumme eines Dreiecks 180° beträgt. Sehen wir uns den Beweis dazu im Detail an, um zu sehen, inwiefern es auch hier vor allem um eine Prüfung der Übereinstimmung von Ideen geht:

Behauptung: Die Winkelsumme eines Dreiecks ist 180° .

Beweis (im Stile von Locke):

Nehmen wir ein beliebiges Dreieck ABC. Dann kann ich über dieses Dreieck zwei Rechtecke ADCF und DBEC so darüberzeichen, dass meine Idee des Winkels von \(\gamma\) mit meiner Idee der Summe zweier Winkel  und übereinstimmt, also so dass: \(\gamma = \gamma_1+\gamma_2\).

Vergleiche ich nun die Idee der Summe der Winkel \(\alpha + \gamma_1\)  mit der Idee eines rechten Winkels, so erkenne ich, dass beide übereinstimmen: \(\alpha + \gamma_1 = 90°\).

Vergleiche ich ferner die Idee der Summe \(\beta+ \gamma_2\) mit der Idee eines rechten Winkels, so erkenne ich, dass beide übereinstimmen: \(\beta+ \gamma_2 = 90°\).

Da meine Idee von \(\gamma\) mit meiner Idee der Summe der Winkel \(\gamma_1\) und \(\gamma_2\) übereinstimmt, so erkenne ich auch, dass die Idee von \(\alpha+\beta+\gamma\) mit der Idee der Summe \(\alpha+\beta+\gamma_1+\gamma_2\) übereinstimmt. Letztere Idee stimmt offenbar mit meiner Idee von \(\alpha+\gamma_1+\beta+\gamma_2\) überein. Und da \(\alpha+\gamma_1=90°\)  und \(\beta+\gamma_2=90°\), kann ich die Übereinstimmung der folgenden Ideen erkennen:

\(\alpha+\beta+\gamma=\alpha+\gamma_1+\beta+\gamma_2=90°+90°=180°\)

Also habe ich mittels der sukzessiven Wahrnehmung der Übereinstimmung verschiedener geometrischer Ideen die Wahrheit des obigen Satzes erkannt. Q.E.D.

In der Geometrie wird ein Winkel so definiert:

Def: Ein Winkel ist ein geometrisches Gebilde in der Ebene, das durch zwei Geraden gebildet wird, die von einem (gemeinsamen) Punkt ausgehen.

In dieser Definition liegt nicht, dass ein Winkel beliebig teilbar ist. Somit liegt es auch nicht in der Idee des Winkels \(\gamma\)  selbst, dass sie gleich der Idee der Summe \(\gamma_1+\gamma_2\)ist; das ist vielmehr eine Erkenntnis, die über die bloße Definition hinausgeht. Also handelt es sich um eine wissenserweiternde Erkenntnis und nicht um eine analytische Tautologie. Kant wird dies Art von Wissen später „synthetisch“ nennen. Hier noch ein weiteres Beispiel[11]:

„[…] der Außenwinkel eines Dreiecks [ist] stets größer […] als jeder der beiden ihm gegenüberliegenden inneren Winkel. Dieses Größenverhältnis […] bildet keinen Bestandteil der komplexen Idee, die durch den Namen Dreieck bezeichnet wird[12]. Folglich ist dieser Satz eine reale Wahrheit und vermittelt uns ein instruktives reales Wissen.“

Die Frage natürlich ist, wie eine solches synthetisches Wissen in der Geometrie möglich ist. Drei Kriterien gibt es dafür. Erstens ist es wichtig, dass sich mathematische Ideen nicht auf eine äußere Realität beziehen, sondern ideelle Abstraktion sind. Dies gilt nach Locke für alle komplexen Ideen, außer denen die sich auf Dinge, Lebewesen oder andere Menschen beziehen[13]. Ideen von Substanzen sind nämlich gleichsam Bilder von etwas anderem, und solche Abbildungen können fehlerhaft sein. Abstrakte, mathematische Ideen hingegen sind Bilder von sich selbst sind und damit ist die Abbildung immer unzweifelhaft fehlerfrei.

Das zweite Kriterium, damit synthetisches Wissen möglich wird, ist, dass man „klare, deutliche und vollständige Ideen [erwirbt], sie dem Geist [einprägt] und ihnen zutreffende und feststehende Namen [beilegt]“.[14] Diese Methode erinnert an die Regeln zur Leitung des Verstandes von Descartes. Und offenbar ist dies in der Mathematik mustergültig realisiert [15].

Drittens gewinnt man synthetisches Wissen nur über die Relationen, die notwendigerweise zwischen zwei abstrakten Ideen bestehen[16]:

„Allgemeine und sichere Wahrheiten sind lediglich in den Beziehungen und Verhältnissen der abstrakten Ideen begründet. Eine scharfsinnige und methodische Betätigung unseres Denkens, das darauf gerichtet ist, diese Beziehungen herauszufinden, ist der einzige Weg, um alles zu entdecken, was sich über sie in Form von allgemeinen Sätzen mit Wahrheit und Gewissheit aussagen lässt. In welcher Reihenfolge wir hierbei fortzuschreiten haben, können wir in den Schulen der Mathematiker lernen. Sie beginnen mit ganz einfachen und leichten Dingen, steigen dann von da aus in allmählichen Übergängen und in einer fortgesetzten Kette von Folgerungen zur Ermittlung und zum Beweis von Wahrheiten fort, die beim ersten Blick jenseits des Bereichs menschlicher Fassungskraft zu liegen scheinen. Die Mathematiker beherrschen die Kunst, Beweisglieder aufzufinden, und die bewunderungswürdigen Methoden […] um die Zwischenideen auszusondern und zu ordnen, die demonstrativ die Gleichheit oder Ungleichheit von Größen zeigen […] Dadurch haben sie es so weit gebracht; das hat auch zu so wunderbaren und unerwarteten Entdeckungen geführt.“

Moral, natürliche Religion und Philosophie: Mathematik als Vorbild

Locke sieht eine prinzipielle Ähnlichkeit zwischen moralischen und mathematischen Begriffen. Tapferkeit, Gerechtigkeit, etc. sind wie mathematische Gegenstände abstrakte Ideen, die sich auf keine Realität außerhalb ihrer selbst sich beziehen. Dasselbe gilt für Begriffe der natürlichen Religion und der Philosophie. Um hier zu sicherem, synthetischem Wissen zu gelangen, müsse man sich nur klare, deutliche und vollständige Vorstellungen von ihnen machen, so dass man die notwendigen Relationen unter ihnen erkennt. Aber auch sicheres analytisches Wissen kann man in diesen Bereichen gewinnen, indem man mit sauberen Definitionen arbeitet.

Ein Beispiel dafür, wie sich Locke solches Wissen vorstellt, ist sein Beweis der Existenz Gottes[17], den ich nachfolgend in meinen Worten wiedergebe:

Behauptung: Es gibt ein ewiges, allmächtiges und allwissendes Wesen.

(1) Ich weiß, dass ich selbst existiere. Ich habe die intuitive Gewissheit, dass das reine Nichts kein reales Sein hervorbringen kann. Da jetzt etwas Reales ist (nämlich ich selbst) und da etwas Reales nicht aus dem Nichts hervorgegangen sein kann, muss es somit schon immer („von Ewigkeit her“) irgendetwas gegeben haben. Also muss ein ewiges Wesen existieren, dem ich mein Dasein verdanke.

(2) Dieses ewige Wesen, dem ich mein Dasein verdanke, muss mindestens so mächtig sein, wie ich selbst. Also muss es das mächtigste Wesen überhaupt sein.

(3) Ich finde in mir selbst Wahrnehmung und Wissen. Nun kann nicht-denkende Materie unmöglich Bewusstsein hervorbringen. Also muss das Wesen, dem ich mein Dasein verdanke, selbst Bewusstsein haben und außerdem allwissend sein.

Selbstverständlich ist dieser „Beweis“ mehr als fragwürdig.

Nachwirkung

Locke glaubte nicht, dass man größere Fortschritte in den Naturwissenschaften mit Experimenten und Induktion erzielen könne. Newton hingegen behauptete gerade, seine obersten Prinzipien aus den Naturerscheinungen mittels Induktion gewonnen zu haben. Nachfolgende Generationen hielten sich mehr an Newton und sahen in der experimentellen Methode den Erfolg der modernen Wissenschaft. Experimente und Induktion wurden zunehmend nicht nur in der Physik, sondern auch in der Chemie und der Biologie angewendet. Man kann auch sagen, dass Lockes Hoffnung, die Morallehre und die natürliche Theologie zu so sicheren Wissenschaften zu machen, wie es die Mathematik ist, sich nicht erfüllt hat.

Neben Bacon gilt Locke als zweiter Gründungsvater des Empirismus. Viele Denker nach ihm folgten ihm in der Forderung, dass sich wahre Erkenntnis niemals nur allein in abstrakten Begriffen vollziehen kann, sondern immer eine anschauliche Grundlage benötigt. Auch dies nahm Kant auf, später aber auch vor allem Schopenhauer. Wegeweisend war er auch darin, auf nicht-empirische, metaphysische Aspekte der Naturwissenschaft hinzuweisen.

[1] Locke, Essay, 4. Buch, Kap. I, 9,

[2] Peter R. Anstey: Boyle’s Influence on Locke, in: The Bloomsbury Companion to Boyle. S. 57 f.

[3] Locke, Essay, 2. Buch, Kap. I, 9, sowie 23.

[4] Locke, Essay, 2. Buch, Kap. I, 1.

[5] Locke, Essay, 4. Buch, Kap. II, 1 und 4. Buch, Kap. VI, 4.

[6] Locke, Essay, 4. Buch, Kap. III, 16.

[7] Locke, Essay, 4. Buch, Kap. III, 28.

[8] Locke, Essay, 4. Buch, Kap. III, 25.

[9] Locke, Essay, 4. Buch, Kap. XII, 10, 11.

[10] Locke, Essay, 4. Buch, Kap. III, 1 und 2.

[11] Ein anderes Beispiel ist der sog. Außenwinkelsatz, siehe Essay, 4. Buch, Kap. VIII, 8.

[12] Ein Dreieck wird definiert als durch drei Linien begrenzte Fläche.

[13] Siehe Essay, 4. Buch, Kap. IV, 5.

[14] Essay, 4. Buch, Kap. XII, 6.

[15] Essay, 4. Buch, Kap. XII, 7.

[16] Essay, 4. Buch, Kap. XII, 7.

[17] Essay, 4. Buch, Kap. X.

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