Leonhard Euler: Rationalistische Mechanik

Leonhard Euler (1707-1783) wurde in Basel geboren und ist einer der bedeutendsten Mathematiker und Physiker des 18. Jahrhunderts.

Von seiner naturphilosophischen Ausprägung her war er Cartesianer[1]. Dennoch lehnte er sich in seiner Mechanik eng an Newton an und verwendete in seinem mathematischen Formalismus fernwirkende Kräfte, obwohl er sie eigentlich ablehnte. Er hoffte, ähnlich wie Newton selbst, dass man später einmal die Gravitation alleine durch Druck und Stoß erklären können würde. Pulte schreibt über ihn[2]:

„Euler war zu sehr Mathematiker und Physiker, um auf den erfolgreichen Newtonschen Zugang zu verzichten, aber auch zu sehr Naturphilosoph im Sinne der cartesianischen Tradition, um eine Newtonsche Mechanik der Kräfte ohne weitere Begründung des Kraftkonzepts zu akzeptieren. […] Aber es ist auch festzuhalten, dass Euler auf mathematischer Ebene die Newtonsche Kraft als Basiskonzept einführt, obwohl diesem Konzept auf ontologischer Ebene keine primäre Entität entspricht.“

Alle seine Werke sind auf der hervorragenden Internet-Seite eulerarchive.maa.org abrufbar. Wichtige Werke von ihm sind unter anderem:

Neue Form der mathematischen Darstellung

1736 veröffentlicht Euler sein monumentales Werk Mechanik. Es ist die historisch erste Darstellung der Newtonschen Physik mithilfe der Differenzialrechnung. Mit einem Mal ändert sich die Erscheinungsform von Physikbüchern. Bisher waren sie voll mit Linien und Kreisen, sie sahen aus wie Geometrie-Lehrbücher. In Eulers Mechanik hingegen sieht man abstrakte Gleichungen, Integralsymbole, sowie Symbole wie dx, dt oder ds, wie sie in der Infinitesimalrechnung verwendet werden. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Euler nicht Newtons Flexionsrechnung verwendet, sondern den Infinitesimalkalkül seines Widersachers Leibniz.

Inhaltliche Verbesserung von Newtons Mechanik

Ferner schloss Euler viele Lücken in Newtons Theorie. Beispielsweise führte Euler den Begriff des „Massepunkts“ ein. In der modernen Mechanik wird die tatsächliche Welt derart idealisiert, dass ausgedehnte Körper auf sog. Massepunkte reduziert werden, an denen Kräftevektoren wirken. Das erleichtert die Theorie ungemein. Auch Newtons Physik arbeitete zwar faktisch immer mit Massepunkten, er hat es nur nie ausdrücklich formuliert. Das tut vielmehr erstmals Euler. Ferner entwickelte Euler eine korrekte Strömungsmechanik für Flüssigkeiten.

Auch die heute übliche Formulierung des zweiten Newtonschen Bewegungsgesetzes als F=m×a geht auf Euler zurück. Das zweite Bewegungsgesetz in den Principia behauptet, dass die einwirkende Kraft F proportional zum Bewegungsquantum oder Impuls m×v ist. Damit bezieht es sich auf eine stoßartig, punktuell einwirkende Kraft, die bei einem Körper eine Veränderung des Impulses (der „Bewegungsquantität“) bewirkt. Das erinnert eher an Descartes‘ Stoßgesetze als an das heute als zweites Bewegungsgesetz bekannte F=m×a, das für eine dauerhaft einwirkende Kraft gilt. Newtons zweites Axiom als Stoßgesetz behauptett, dass der Stoßß umso größer ist, je größer die stoßende Kraft. Diese Aussage mag evident sein, faktisch verwendet er aber ständig das andere, von ihm nicht genannte Gesetz F=m×a. Möglicherweise hielt er es für eine Selbstverständlichkeit, dass F=m×a aus seinem Axiom F~m×v mit einem infinitesimalen Argument „herleitbar“ ist.

In § 99 seiner Mechanik definiert Euler den Begriff der „Kraft“. Diese Definition ist ähnlich zweideutig, wie die Formulierung des zweiten Bewegungsgesetz in Newtons Principia.

„Eine Kraft ist die Gewalt, welche einen Körper von der Ruhe zur Bewegung bringt, oder seine bereits stattfindende Bewegung verändert.“

Das klingt zunächst, als würde Euler meinen, dass die Kraft für Beschleunigung zuständig ist, als F~a. Dann kann man sich aber fragen, warum er die Formel F=ma in § 154 aufwendig beweist, wenn sie doch eigentlich als Einzeiler direkt aus der Definition folgen müsste. Im Kern ist sein Beweis der Ausführung sehr ähnlich, wie ich sie oben gegeben habe, um aus F~m×v   F= m×a intuitiv herzuleiten[3]. So scheint es nahezuliegen, dass Euler die Kraft so definieren will, dass ihre Stärke proportional zu der Geschwindigkeit ist, die sie bei einem Stoß zusätzlich erzeugt. Ganz im Sinne von Newtons Formulierung des zweiten Bewegungsgesetzes: F~mv.

Eine der historisch ersten expliziten Nennungen von F=ma findet man im § 154 von Eulers Mechanik als Lehrsatz 20:

„Stimmt die Richtung der Bewegung des Punktes mit der Kraft überein, so ist das Increment der Geschwindigkeit [d.h. dv] proportional dem Produkt der Kraft [F] in das Zeitteilchen [dt], dividiert durch die Masse des Punktes [m].“

Mathematisch ausgedrückt heißt das: dv = dt F/m. Und durch Umformungen erhält man:

\( dv = dt F/m \Rightarrow dv/dt = F/m \Rightarrow dv/dt × m = F \Rightarrow   F = dv/dt × m \)

Und das ist nichts anderes als F=m×a.

Schließlich veröffentlicht Euler im Jahre 1752 seinen Aufsatz Découverte d’un nouveau principe de Mécanique, in dem er eine dreidimensionale Erweiterung des Gesetzes F=m×a vorstellt und es als „allgemeines und fundamentales Prinzip der Mechanik“ bezeichnet. Euler beschreibt, warum man dieses Prinzip für eine Mechanik benötigt, die allgemeiner als die bisherige ist. Das bisherige eindimensionale Gesetz ist nämlich nur für solche Fälle anwendbar, bei denen ein Körper sich entlang einer gedachten geometrischen Gerade bewegt, d.h. dass jeder Punkt des Körpers gleich schnell parallel verschoben wird. Es gibt aber auch rotierende Bewegungen, bei denen das nicht der Fall, z.B. wenn ein Körper sich genau um seinen Schwerpunkt dreht. Dann ruht zwar der Schwerpunkt, alles andere am Körper ist aber in Bewegung[4].

Hier eine skizzenhafte Darstellung seines neuen Prinzips. Euler nimmt einen „infinitesimal kleinen Körper“ an, also einen Massepunkt, sagen wir, mit der Masse M. An diesem Körper sollen nun drei Kräfte entsprechend den drei Raumdimensionen wirken. Eine Kraft P wirkt entlang der x-Achse, eine Kraft Q wirkt entlang der y-Achse und eine Kraft R wirkt entlang der z-Achse. Das Gesetz stellt Euler nun in Form dreier Differenzialgleichungen auf (§ 22):

  1. 2M ddx = P dt²,    II. 2M ddy = Q dt²,   III. 2M ddz = R dt²,

Dabei rührt der Faktor 2 nur von dem Einheitensystem, das Euler verwendet.

Es ist durchaus bemerkenswert, wie Euler dieses neue Prinzip einführt. Er leitet, wie gesagt, nicht zu ihm hin, weil es evident ist, auch nicht aufgrund von Experimenten oder bestimmten Erfahrungstatsachen. Er führt es stattdessen nur deswegen ein, weil die bisherige Mechanik eine Lücke hatte, indem sie bestimmte rotierende Bewegungen von Körpern theoretisch nicht erfasste. Das neue Prinzip erlaubt also eine verallgemeinerte Mechanik. Das ist Eulers erster Rechtfertigungsgrund.

Der zweite Rechtfertigungsgrund ist, dass die ganze bisherige Mechanik aus diesem neuen Prinzip herleitbar ist. So schreibt er[5]:

„§ 19. […] Und auf diesem einzigen Prinzip müssen alle anderen Prinzipien aufgestellt werden, sowohl diejenigen, die bereits in Mechanik und Hydraulik eingegangen sind, als auch die, die man gegenwärtig verwendet, um die Bewegung fester Körper und Flüssigkeiten zu bestimmen; sowie solche, die noch nicht bekannt sind und die wir brauchen werden, um den oben erwähnten Fall fester Körper zu entwickeln, sowie einige andere, die bei flüssigen Körpern auftreten. Denn es geht jeweils nur um die geschickte Anwendung des Grundprinzips, das ich gerade erwähnt habe und das ich noch genauer erläutern werde.“

Der dritte und wohl wichtigste Rechtfertigungsgrund ist, auch wenn Euler das nicht ausdrücklich anspricht: dass die bisherige Mechanik in der Praxis erfolgreich gewesen ist. Dazu Pulte[6]:

„Mit zunehmenden mechanischen Wissen wird die Ableitung aus Axiomen wichtiger als die Begründung von Axiomen selber, ihre, formalen (logische-deduktiven) Möglichkeiten werden wichtiger als ihr naturgesetzlicher Gehalt […]. Metaphysische Prinzipienbegründungen, aber auch solche empiristischen Begründungen, die explizit auf erkenntnistheoretische und methodologische (induktionslogische) Reflexionen Bezug nehmen, werden sekundär.“

Möglicherweise glaubte Euler, dass auch dieses neue Prinzip irgendwie rational beweisbar wäre, so wie er ja bereits in seiner Mechanik alles für beweisbar hält. Und dass er einfach nachlässig war bzw. es für ihr letztlich uninteressant war, einen solchen Beweis explizit zu versuchen.

Mathematische Naturauffassung

Wie sehr Euler die Natur als in ihrem Wesenskern mathematisch auffasst, kann man beispielhaft an seinem Lehrsatz 3 seiner Mechanik erkennen (§ 33):

„Bei einer beliebigen ungleichförmigen Bewegung kann man sich vorstellen, dass die kleinsten Elemente des Weges mit gleichförmiger Bewegung durchlaufen werden.

Beweis: So wie man in der Geometrie die Elemente der Curven als unendlich kleine gerade Linien betrachtet, kann man auf ähnliche Weise in der Mechanik die ungleichförmige Bewegung in unendlich viele kleine gleichförmige zerlegen. Entweder werden nämlich die Elemente wirklich mit gleichförmiger Bewegung zurückgelegt oder es ist die Änderung der Geschwindigkeit innerhalb derselben so gering, dass man das Increment oder Decrement ohne Fehler vernachlässigen kann. In beiden Fällen sieht man die Wahrheit der Behauptung.“

Extrem aufschlussreich ist, dass Euler die Eigenschaft eines Naturphänomens, in diesem Fall die einer beliebige Ortsbewegung, nicht durch Erfahrung gewinnt, sondern durch beweisendes Nachdenken. Das lässt weniger an Newtons „experimentelle Physik“ denken als an Euklids Geometrie. Euler sagt, dass eine beliebige ungleichförmige Bewegung im Wesentlichen wie eine geometrische Kurve ist. Sofern sie es in Wirklichkeit eben doch nicht ist, dann könne man das getrost vernachlässigen. Das ist exakt das, was ich Mathematisierung der Natur nenne. Die Mathematik ist nicht nur eine geeignete Weise, um Naturphänomene zu beschreiben, sondern die Naturphänomene sind an sich und ihrem immanenten Wesen nach mathematisch.

In Eulers Mechanik gibt es sehr viele ähnlich Beispiele. Ständig führt er Beweise aus, Empirie spielt keine Rolle. Alles, was er in der Physik mathematisch beweisen kann, hält er für unanzweifelbar in der Realität, wie sie an sich ist, verankert.

Physikalische Prinzipien werden in Eulers Mechanik „bewiesen“

Euler beginnt die Mechanik mit Definitionen, die bei ihm „Erklärungen“ heißen:

  • Bewegung ist die Versetzung eines Körpers von dem Orte, den er einnimmt, nach einem andern Orte (§ 1)
  • Ruhe ist das Verharren eines Körpers an einem Orte (§ 1).
  • Jeder sich bewegende Körper hat eine Geschwindigkeit, welche man durch den Weg misst, den jener mit gleichförmiger Bewegung in einer gegebenen Zeit zurücklegt (§ 21).

All diese Definitionen haben den Charakter von geometrischen Definitionen. Sie sind allesamt abstrakt und weit weg von der Empirie.

Die Newtonschen Bewegungsgesetze sind bei Newton als „Axiome“ gekennzeichnet. Das heißt: sie sind für ihn Prinzipien, aus denen er alle weiteren Lehrsätze seiner Theorie deduzieren will, die selbst nicht beweisbar sind, aber deren notwendige Wahrheit evident bzw. aus den Naturerscheinungen induktiv abgeleitet ist. Um der Einsicht in diese notwendige Wahrheit ein wenig auf die Sprünge zu helfen, führt er ein paar konkrete Beispiele an, was einer aristotelischen Induktion entspricht. In Eulers Mechanik von 1736 hingegen gibt es keine unbeweisbaren physikalischen Prinzipien. Alles soll beweisbar sein[7]. Das heißt: Die Physik beruht nicht auf der Beobachtung der Natur oder auf aufschlussreichen Experimenten, sie beruht alleine auf Logik und Mathematik.

In den §§ 56, 63 und 65 formuliert er das Trägheitsprinzip in Form von drei „Lehrsätzen“, die er jeweils „beweist“. Letztendlich basieren seine Beweise immer auf dem Satz vom zureichenden Grunde: Alles, was geschieht, muss einen zureichenden Grund haben. Also bleibt ein ruhender Körper, sofern er durch nichts gestört wird, weiterhin ruhend; und ein sich bewegender Körper bleibt, solange er nicht gestört wird, weiterhin in Bewegung. Und aus demselben Grund bleibt eine geradlinige Bewegung immer weiterhin geradlinig. Bei Euler ist die Trägheit also erstens nicht der Empirie entnommen, zweitens aber auch kein Axiom, sondern ein bewiesener Lehrsatz. Insofern vertritt Euler das rationalistische Wissenschaftsmodell von Descartes, das selbst in der Tradition der aristotelischen Wissenschaftstheorie steht. In diesem Sinne schreibt Pulte:

„[Eulers Programm] ist axiomatisch, weil es die Existenz von begründbaren Prinzipien behauptet, die das Gesamt mechanischen Wissens beinhaltet, fundamentalistisch, weil es diese Prinzipien als ‚Wahrheiten jenseits allen Zweifels‘ oder ‚unbestreitbare Wahrheiten‘ ausweist, und essentialistisch, weil diese Prinzipien die ‚Wesenseigenschaften‘ der Körperwelt repräsentieren und sogar mit Notwendigkeit aus ihnen folgen sollen.“[8]

„Mathematik ist für Euler eine Wirklichkeitswissenschaft. […] ‚Mathematische‘ Ausdehnung etwa ist kein idealer, für die Physik unbrauchbarer Begriff, sondern real in dem Sinne, dass die Eigenschaften, die die Mathematik von ihr aussagt, auch von (notwendig ausgedehnten) physischen Körpern ausgesagt werden können. Eulers bevorzugtes (weil auf Leibniz‘ Monadenlehre abzielendes) Beispiel hierfür ist die unendliche Teilbarkeit der Ausdehnung: Sie ist mathematisch möglich und also auch physisch.“[9]

Im Prinzip ist die Physik für Euler ein Art Geometrie. Beide sind absolut gewiss, beide leiten Theoreme deduktiv aus obersten Grundsätzen ab. Und beide haben einen Wirklichkeitsbezug, sagen etwas über die Realität aus: die Geometrie, weil sie sich auf räumliche Figuren bezieht, die in der Natur wirklich vorkommen, die Physik, weil sie sich auf allgemeinste Körpereigenschaften und -bewegungen bezieht.

[1] Was seine erkenntnistheoretischen Gedanken betrifft, war er Empirist und lehnte sich stark an John Locke an.

[2] Pulte, Axiomatik und Empirie, S. 175.

[3] Siehe vor allem den Beweis zu § 150, S. 49.

[4] Découverte § 3.

[5] Découverte, S. 19, meine Übersetzung.

[6] Pulte, Axiomatik und Empirie, S. 155.

[7] Siehe auch die Vorrede zu Eulers Mechanik, S. 5.

[8] Pulte, Axiomatik und Empirie, S. 171.

[9] Pulte, Axiomatik und Empirie, S. 181.

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