Leibniz als Naturwissenschaftler

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) war ein Universalgelehrter des Barockzeitalters, dessen Arbeitsschwerpunkt im Bereich der Philosophie, der Mathematik, der Naturwissenschaft und den Rechtswissenschaften lag.

Nach seiner Studienzeit trat er in den Dienst von verschiedenen deutschen Fürsten. Zunächst arbeitete er ab1672 als Jurist beim Erzbischof von Mainz und ging mit einem diplomatischen Auftrag an den französischen Hof Ludwigs XIV. 1677 wurde er Hof- und Kanzleirat am Hof von Hannover, wo er bis zu seinem Lebensende blieb.

Leibniz stand mit vielen zeitgenössischen Gelehrten und Wissenschaftlern in brieflichen Austausch, darunter Huygens und Newton, die er auf seinen Reisen nach Paris und London auch persönlich kennenlernte. Viele seiner Theorien sind uns heute nicht durch Bücher zugänglich, die er zu Lebzeiten veröffentlichte, sondern mittels seiner Briefe. Seit 1675 war er auswärtiges Mitglied der Royal Society. Nach deren Vorbild wurde die Königlich-preußische Akademie der Wissenschaften gegründet, deren erster Präsident er war.

Seine Leistungen im Gebiet der Mathematik sind:

  • Die Erfindung der Differenzial- und Integralrechnung, wobei es hier in einen unschönen Prioritätenstreit mit Newton geriet. Heute gilt es als erwiesen, dass Newton seine Fluxionsrechnung zwar früher ersann, sie aber nicht veröffentlichte. Etwas später kam Leibniz auf seinen Kalkül, den er auch umgehend veröffentlichte.
  • Eine Theorie der unendlichen Reihen.
  • Das Dualsystem, d.h. ein Zahlensystem, das alle Zahlen nur durch die Ziffern 0 und 1 darstellt, was heute die Grundlage der Informatik ist.
  • Matrizenrechnung und Determinanten.
  • Ideen zur Wahrscheinlichkeitstheorie.
  • Kombinatorik.

Leibniz gilt als Vordenker der modernen mathematischen Logik, da er bereits einen formalen Logikkalkül skizzierte, den er allerdings nicht veröffentlichte. Sein wichtigster Beitrag zur Physik war der Erhaltungssatz von Höhen- und Bewegungsenergie.

Wie viele seiner wissenschaftlich tätigen Zeitgenossen hatte Leibniz einige technische Erfindungen:

  • Er entwarf und verwirklichte erfolgreich eine Rechenmaschine mit Staffelwalzen für die vier Grundrechenarten.
  • Verbesserungen zum Oberharzer Bergbaus, z.B. durch eine horizontale Windmühle, durch die Endloskette zur Erzförderung.
  • Verbesserung von Türschlössern.
  • Gerät zur Messung der Windgeschwindigkeit.
  • Pläne für ein U-Boot.

Ich zitiere nachfolgend aus:

  • Monadologie und andere metaphysische Schriften, übersetzt von Ulrich Johannes Schneider, Felix Meiner Verlag, 2014.
    • Metaphysische Abhandlung, verfasst 1685-1686, erstmals veröffentlicht 1846.
    • Monadologie, verfasst 1714, erstmals veröffentlicht 1721.
    • Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade, verfasst 1714, erstmals veröffentlicht 1718.
  • Philosophische Schriften Band 4, Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft. Übersetzt von Herbert Herring. Suhrkamp, 1996.
    • Kurzer Beweis eines merkwürdigen Irrtums des Descartes. Verfasst 1686.
    • Ein allgemeines Prinzip. Verfasst 1687.
    • Aus dem Brief an Varignon vom 2. Februar 1702.
    • Aus einem weiteren Brief an Varignon von
    • Über die Natur an sich. Verfasst 1698.
    • Aus einem Brief an de Volder von 1699.
    • Betrachtungen über die Prinzipien des Lebens. Verfasst 1705.
    • Metaphysische Anfangsgründe der Mathematik. Verfasst 1715.

Die Monadenlehre

In der aristotelischen Naturphilosophie spielte der Begriff des Wesens eine wichtige Rolle, der auf Griechisch „Ousia“ und auf Latein „Substanz“ heißt. Demnach bestehen die Naturdinge erstens aus Materie, zweitens ist in ihnen jeweils eine Substanz wirksam, so dass die Materie die Form erhält, die sie zu dem machen, was sie sind. So bewirkt z.B. in einer Tulpe ihre Substanz, eben dass sie eine Tulpe ist. Und diese Substanz ist bereits in der Tulpenzwiebel vorhanden. Oder in einem Pferdeembryo ist bereits die Substanz des Pferdes wirksam, so dass sich er sich letztlich zu einem ausgewachsenen Pferd entwickelt. So ist die Substanz einerseits Wirkursache eines Naturdinges, andererseits aber auch dessen Zweckursache. In jedem Fall ist die Substanz ein aktives Prinzip, das ein Naturding lebendig macht oder beseelt. Nach Aristoteles ist die „Seele“ (psyche) eines lebendigen Organismus dessen aktive Substanz. Sie ist verantwortlich dafür bzw. bewirkt, dass das Lebewesen sich zu dem entwickelt, was es ist. Die reine Materie hingegen ist bloß passiv.

Leibniz folgt den naturphilosophischen Grundgedanken des Aristoteles. Er sieht aber auch, dass diese Auffassung der Natur, wie ich es oben formuliert habe, einen aristokratischen Charakter hat[1]:

„Hierin haben unsere Scholastiker […] in der Vergangenheit gefehlt, da sie glaubten, über die Eigenschaften der Körper Rechenschaft geben zu können, indem sie Formen und Qualitäten nannten, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Wirkensweise zu untersuchen, so als wollte man sich damit begnügen zu sagen, eine Uhr habe die Qualität des Stundenanzeigens, die von ihrer Form herrühre, ohne in Betracht zu ziehen, worin das alles besteht. Das könnte wohl dem, der die Uhr kauft, in der Tat genügen, wenn er nur ihre Pflege einem anderen überlässt.“

So hält Leibniz es für notwendig, die aristotelische Substanz-Philosophie um eine mechanistische Naturauffassung zu ergänzen. Demnach wird jedes Naturding zusätzlich durch seinen geometrische-quantitativen Bauplan und seine Funktionsweise definiert[2]:

„So ist jeder organische Körper eines Lebendigen eine Art göttliche Maschine oder natürlicher Automat […]“

Nun vertraten die allermeisten Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts, die der mechanistischen Naturauffassung anhingen, den Atomismus. Danach setzt sich die gesamte materielle Wirklichkeit aus kleinsten, unteilbare, unveränderlich, ewig bestehenden Partikeln zusammen, die sich nur durch quantitativ-geometrische Eigenschaften und in einem Vakuum bewegen. Auch der junge Leibniz gehörte zu ihnen.

Der reife Leibniz hingegen distanzierte sich von den Kernaussagen des Atomismus. Und zwar glaubte er erstens nicht, dass es in der Natur ein Vakuum geben könne. Zweitens lehnte der die Vorstellung von unteilbaren, kleinsten Partikeln ab, die dennoch noch eine bestimmte räumliche Ausdehnung haben sollen. Leibniz argumentiert, dass beide Punkte dem Kontinuitätsprinzip widersprechen. Gemäß diesem Prinzip gibt es in der Natur keine Sprünge, jeder natürliche Übergang ist fließend und stetig[3],

„[…] dass alles in der Wissenschaft vollkommen miteinander verbunden ist, und man kein einziges Beispiel dafür geben [kann], dass irgendeine Eigenschaft plötzlich aufhörte oder entstände […]“

Gäbe es aber ein ausgedehntes Atom in einem Vakuum, dann gäbe es zwischen den beiden einen schroffen, sprunghaften Übergang. Nähert man sich vom Vakuum aus dem Atom, dann hat man zunächst vollständig leeren Raum, der schließlich an der Oberfläche des Atoms angrenzt, um dann mit einem Schlag, vollkommen unvermittelt, in die atomare, unzerstörbare Materie übergeht. Dieser Übergang von leerem Raum zum Atom wäre alles andere als kontinuierlich, sondern sprunghaft. Hält man das Kontinuitätsprinzip für uneingeschränkt wahr, dann kann es solch einen Übergang nicht geben. Dass Leibniz dieses Prinzip für ein vernunfteinsichtiges, notwendiges Axiom hält, ist ein Beispiel dafür, wie Leibniz die materielle Wirklichkeit in ihrem Wesenskern mathematisch versteht[4]:

„Ich bin von der Allgemeingültigkeit [des Kontinuitätsprinzips] nicht nur für die Geometrie, sondern auch für die Physik vollkommen überzeugt. Da die Geometrie nichts anderes als die Wissenschaft von den Grenzen und der Größe des Kontinuums ist, so ist es nicht verwunderlich, dass dieses Gesetz überall in ihr beobachtet wird: denn woher sollte eine plötzliche Unterbrechung bei einem Gegenstand kommen, der kraft seiner Natur keine zulässt?“

Ferner behauptet er,

„dass […] es notwendig ist, dass die Physik mit der Geometrie in andauernder Harmonie sein muss, und dass das Gegenteil einträte, wenn da, wo die Geometrie Kontinuität verlangt, die Physik eine plötzliche Unterbrechung zuließe.“

Andererseits hält Leibniz an der Idee eines ausdehnungslosen und vakuumlosen Atomismus fest. Denn er stellt sich den physikalischen Raum als vollständig mit „Monaden“ ausgefüllt vor, die gewissermaßen Atome ohne Ausdehnung sind. Leibniz identifiziert die Monaden mit den Substanzen, die in den Naturdingen aktiv wirksam sind. Nach Leibniz kann nur Gott die Monaden erschaffen oder vernichten, ansonsten sind sie unzerstörbar, unveränderlich, ewig andauernd[5].

Demnach besteht ein bestimmtes Naturding, also z.B. ein Pferd, aus unendlich vielen Monaden, wobei eine bestimmte Monade für dieses Naturding beherrschend ist, eben die Substanz des Pferdes. Jeder organische Teil des Pferdes besteht wieder aus unendlich vielen Monaden und einer bestimmten beherrschenden Monade, sozusagen der Substanz-Monade dieses Teils. Und dasselbe gilt für jeden weiteren Teil, bis ins Unendlichkleine. Und in die entgegengesetzte Richtung ist das Pferd Teil eines größeren Ganzen, das wiederum aus unendlich vielen Monaden und einer dominierenden Substanz-Monade besteht, und so weiter bis ins Unendlichgroße.

„In der Natur ist alles erfüllt, es gibt einfache Substanzen überall […], die kontinuierlich ihre Bezüge ändern. Jede einfache Substanz oder ausgezeichnete Monade, die das Zentrum einer zusammengesetzten Substanz ausmacht (wie beispielsweise Lebewesen) und das Prinzip ihrer Einheitlichkeit, ist von einer aus unendlich vielen anderen Monaden zusammengesetzten Masse umgeben, die den eigenen Körper dieser Zentralmonade bilden […]. Und dieser Körper ist organisch, sobald er eine Art Automat oder Naturmaschine bildet die Maschine nicht nur im Ganzen, sondern auch in den kleinsten Teilen ist, die sich bemerken lassen […]“[6]

„Die Maschinen der Natur aber, d.h. die lebendigen Körper, sind Maschine noch in ihren kleinsten Teilen, bis ins Unendliche. Das macht den Unterschied zwischen der Natur und der Kunst […].

Und jeder Anteil der Materie kann als ein Garten voller Pflanzen und wie ein Teich voller Fische begriffen werden. Jeder Zweig der Pflanze, jedes Glied des Lebewesens, jeder Tropfen seiner Säfte ist jedoch wiederum ein solcher Garten oder ein solcher Teich.

Und obgleich die Erde und die Luft im Zwischenraum der Gartenpflanzen oder das Wasser im Zwischenraum der Fische im Teich nicht Pflanze oder Fisch sind, enthalten sie dennoch auch davon etwas, oft aber in einer für uns unwahrnehmbaren Subtilität.

So gibt es nichts Unkultiviertes, Unfruchtbares oder Totes im Universum, kein Chaos und keine Undeutlichkeit, außer dem Anschein nach; wie man aus einiger Entfernung in einem Teich, in dem man eine undeutliche Bewegung und sozusagen ein Gewimmel von Fischen sähe, die Fische selbst nicht auseinanderhalten kann.“[7]

Vermutlich wurde Leibniz zu seiner Naturphilosophie durch die Erkenntnisse inspiriert, die man damals erstmals mit dem Mikroskop gewann. Robert Hooke veröffentlichte 1665 sein Buch Micrographia, das zahlreiche Zeichnungen von Dingen enthält, die er unter dem Mikroskop sah. Den Zeitgenossen erschlossen sich somit vollkommen ungeahnte neue Welten.

Leibniz‘ Naturauffassung erinnert ferner an barocke Gemälde oder auch an fraktale Kunst:

Leibniz begreift die materielle Wirklichkeit als einen unendlich großen, sowie in unendliche Kleine gehenden und in sich verschachtelten Mechanismus, eine Maschine von ins Unendliche gehenden, in sich verschachtelten Maschinen. All das kann aber, so meint Leibniz, nicht Bewusstsein erklären. Darin kritisiert er auch die cartesische Philosophie, dass sie einer geist- und seelenlosen materiellen Welt die Welt des Denkens gegenüberstellt, die nur dem Menschen zugänglich ist. In der Monadologie schreibt er:

„Man muss im übrigen eingestehen, dass die Perzeption [d.i. ein Bewusstseinserlebnis] und was davon abhängt, durch mechanische Gründe […] unerklärbar ist. Wollte man vorgeben, dass es eine Maschine gäbe, deren Struktur Denken, Empfinden und Perzeptionen haben lässt, könnte man diese unter Bewahrung derselben Proportionen vergrößert begreifen, so dass man in sie wie in eine Mühle hineintreten könnte. Dies gesetzt, würde man beim Besuch im Innern nur einander stoßende Teile finden, niemals aber etwas, was eine Perzeption erklärt. So muss man sie in der einfachen Substanz und nicht in dem Zusammengesetzten oder in der Maschine suchen. […]“

Während für Descartes beispielsweise Tiere nur empfindungslose Automaten gewesen sind, schreibt ihnen Leibniz sehr wohl in einem gewissen Umfang Bewusstseinstätigkeiten zu[8]:

„Die Menschen stehen also mit den Tieren, die Tiere mit den Pflanzen und diese wiederum mit den Fossilien im Zusammenhang, während diese letzteren ihrerseits wieder mit den Körpern, die uns in den Sinnen und der Vorstellung als völlig leb- und formlos erscheinen, zusammenhängen. […] So bilden notwendig alle Ordnungen der natürlichen Wesen eine einzige Kette, in der die verschiedenen Klassen, gleichsam wie Kettenglieder, so eng miteinander verbunden sind, dass es für die Sinne und die Vorstellung unmöglich ist, genau den Punkt anzugeben, wo die eine anfängt und die andere endet.“

Jede der unendlich vielen Monaden ist somit mit bestimmten Formen des Bewusstseins ausgestattet. Seinem Kontinuitätsprinzip entsprechend nimmt Leibniz stetige Übergänge an: Menschen können denken und haben vernünftige Einsichten, Tiere können wahrnehmen und empfinden, Pflanzen haben dumpfe Empfindungen, und selbst die einfachsten, bloß materiellen Monaden befinden sich in einer Art traumlosen Schlaf. In jedem Fall spiegelt eine Monade die gesamte Unendlichkeit des Universums wider, nur eben erstens aus ihrer jeweiligen Perspektive und zweitens mehr oder weniger deutlich.

Ferner gibt es nach Leibniz eine Abfolge von Bewusstseinserlebnissen, die jede Monade nach einem inneren Gesetz durchläuft. Hierbei handelt es sich um ein spezifisches Entwicklungsprinzip, das Gott jeder Monade mit ihrer Erschaffung eingepflanzt hat. Diese Abfolge von Bewusstseinserlebnissen produziert die Monade aktiv aus sich selbst und ohne Bezug zur äußeren Wirklichkeit. Dass aber dennoch diese Bewusstseinsakte der Monaden untereinander harmonieren und auch mit der Wirklichkeit übereinstimmen, beruht auf der unendlich weisen Schaffenskraft Gottes. Gott hat mit seinem anfänglichen Schöpfungsakt alle Monaden so erschaffen, dass sie untereinander und mit der Wirklichkeit perfekt harmonieren.

Zur Zeit von Leibniz dominierte die cartesische Physik. Descartes hielt die Materie für prinzipiell passiv. Leibniz hingegen sah jedes Stück Materie aus unendlich vielen Monaden zusammen zusammengesetzt, die jede für sich einem inneren Entwicklungsprinzip aktiv folgt. Selbst die rein materiellen Monaden, die am weitesten von organischem Leben entfernt sind und am untersten Ende der Entwicklungshierarchie stehen, sind nach Leibniz nicht ausschließlich passiv, sondern auch sie haben noch eine aktive Kraft in sich, und zwar Widerstandskräfte, sich gegen anderes zu behaupten. Das ist einerseits die materielle Undurchdringlichkeit. Andererseits spricht Leibniz von der Trägheitskraft, die in Materieteilchen aktiv bewirkt, dass sie sich Bewegungsveränderungen widersetzen. Während bei Descartes und später Newton mit dem Trägheitsprinzip die Ruhe eines Körpers, als auch die geradlinige Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit als passive Zustände auffassen, sieht Leibniz in der Trägheit eine der Bewegungsänderung aktiv widerstreitende Kraft. Leibniz meint, dass weder die Undurchdringlichkeit noch die Trägheit eines Körpers alleine durch seine geometrische Gestalt erklärbar ist, die ja nach Descartes dessen Wesen sein soll[9]. Übrigens findet man derartige Gedanken später bei Kant wieder.

Worin sich aber beide, Descartes und Leibniz, einig sind, ist, dass Materieteilchen nur durch Stoß und Druck aufeinander wirken können, also immer nur durch unmittelbaren Kontakt. Fernwirkende Kräfte, wie sie dann in der Newtonschen Physik vorkommen werden, lehnen beide strikt ab. In der cartesischen Physik spielte noch der Impulserhaltungssatz eine wichtige Rolle, wohingegen Leibniz einen ersten Energieerhaltungssatz formuliert.

Energieerhaltungssatz[10]

Descartes nahm die Materie zwar als prinzipiell passiv an, dennoch konnte sie durch Stoß auf andere Materieteilchen einwirken. Der Stärke des Stoßes hing wesentlich von der Masse und der Geschwindigkeit des einwirkenden Materieteilchens ab. Je mehr Masse, desto heftiger der Stoß. Je höher die Geschwindigkeit, desto heftiger der Stoß. Das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit  nannte Descartes Bewegungsgröße oder auch Bewegungsquantität. In der heutigen Physik wird das „Impuls“ genannt. Je größer die Bewegungsgröße, desto heftiger der Aufprall, desto heftiger gewissermaßen die Stoßkraft des Materieteilchens.

Nun war der Begriff der Kraft zur Zeit von Leibniz noch sehr unbestimmt und wurde auch mit der physikalischen Größe gleichgesetzt, dem man heute „Energie“ nennt.

Nehmen wir als Beispiel ein Pendel. Eine Kugel A mit der Masse 1 kg wird an einem Pendel um die Höhe 40 cm angehoben:

Wird A losgelassen, so hat es am tiefsten Punkt eine bestimmte Geschwindigkeit und würde es hier auf eine anderes Materiestück auftreffen, würde es ihm einen entsprechenden Stoß versetzen. Nach dem cartesischen Modell müsste der Kraftstoß der Bewegungsquantität entsprechen.

Nehmen wir ein weiteres Pendel mit der Kugel B, die 4 kg schwer ist und um 10 cm angehoben wird:

Bereits im 17. Jahrhundert wusste man, dass man dieselbe Kraft bzw. Energie aufwenden musste um 4 kg um eine Höhe von 10 cm anzuheben oder um 1 kg um 40 cm anzuheben. Modern ausgedrückt würde man sagen, dass beide Male die Höhenenergie \( E_{h}=g\cdot m \cdot h\)  gleich ist.

Hätte Descartes recht, dann müsste die Bewegungsquantität bei beiden Pendeln jeweils am tiefsten Punkt identisch sein. Nun weiß man von den Fallgesetzen Galileis, dass das Quadrat der Geschwindigkeit proportional zur Höhe ist. Folglich ist die Geschwindigkeit proportional zur Wurzel der Höhe.

Da \( h_{A}=4\cdot h_{B}\), muss somit gelten \( v_{A}=2\cdot v_{B}\).

Also gilt für die jeweiligen Bewegungsquantitäten am tiefsten Punkt:

\( m_{A}\cdot v_{A} = m_{A}\cdot (2 v_{B}) = (\frac{1}{4}m_{B})\cdot (2 v_{B}) = \frac{1}{2}m_{B}\cdot v_{B}\)

Die Bewegungsquantität von A am tiefsten Punkt ist somit nur halb so groß wie die Bewegungsquantität von B am tiefsten Punkt. Folglich sind beide ungleich, obwohl sie ja mit derselben Höhenenergie gestartet sind. Die Energie bzw. Kraft, die die beiden Kugeln am tiefsten Punkt haben, reichen aus, die beiden Kugeln wieder auf ihre jeweilige Höhe auf der anderen Seite des Pendels zu bringen, sofern man den Luftwiderstand vernachlässigt. Somit müssten die Energie bzw. die Kraft beider Kugeln, die sie am tiefsten Punkt besitzen, gleich sein. Da aber die Bewegungsquantitäten, wie oben berechnet, verschieden sind, kann die Kraft am tiefsten Punkt nicht der Bewegungsquantität  entsprechen.

Leibniz stellt richtig fest, dass alles stimmt, wenn man anstelle der genannten cartesischen Bewegungsquantität das folgende Produkt wählt, das heute als „kinetische Energie“ bezeichnet wird:

\( E_{kin} =m\cdot v^{2}\)

Denn

\( m_{A}\cdot v_{A}^{2} = m_{A}\cdot (2 v_{B})^{2} = (\frac{1}{4}m_{B})\cdot (4 v_{B}^{2}) = m_{B}\cdot v_{B}^{2}.\)

Leibniz kommt somit zu dem Ergebnis, dass die Höhenenergie beim Start gleich ist mit der kinetischen Energie. Neben der Differential- und Integralrechnung, ist dieser erste Energieerhaltungssatz einer der wichtigsten Beiträge von Leibniz zur modernen Physik. Helmholtz wird später im 19. Jahrhundert einen allgemeineren Energieerhaltungssatz formulieren, der sich auf alle Energieformen bezieht, z.B. auch auf chemische oder elektrische Energie.

Leibniz‘ Wissenschaftsmodell

Aus dem bisher Ausgeführten ist klar, dass für Leibniz die Empirie eher unwichtig ist. Die gesamte Monadenlehre würden wir heute mehr als metaphysische Spekulation bezeichnen, und weniger als naturwissenschaftliche Theorie. Das Kontinuitätsprinzip hat bei ihm den Status eines Axioms, das er für vernunfteinsichtig und notwendig hält, und das er letztlich der Geometrie entnommen hat, das er aber letztlich mit der Vollkommenheit und unendliche Weisheit Gottes, begründet. Ein Widerspruch dazu sei nämlich abzulehnen, wie er schreibt[11]:

„[…] da sonst die Natur nicht das Ergebnis der unendlichen Weisheit wäre. Hieraus lässt sich nun verstehen […], auf welche Weise die wahre Physik aus den Quellen der göttlichen Vollkommenheit zu schöpfen ist. Gott ist ja der Urgrund der Dinge, und die Gotteserkenntnis ist daher nicht weniger als das Prinzipe der Wissenschaft als sein Wesen und sein Wille die Prinzipien der Dinge sind.“

Die „wahre Physik“ müsse somit auf die Erkenntnis Gottes zurückgeführt werden. Leibniz vertritt somit ein ähnlich rationalistisches Wissenschaftsmodell wie Descartes. Und ähnlich wie Descartes schätzt Leibniz die Mathematik sehr, aber die größten Teile seines naturphilosophischen Weltbildes erschließt er sich mit logisch-begrifflichen Argumenten. Eine durchgängig mathematische Gesamttheorie wird erst Newton entwickeln, weshalb sich auch seine Physik letztlich gegenüber den Naturphilosophien von Descartes und Leibniz durchsetzen wird.

[1] Leibniz: Metaphysische Abhandlung, S. 25.

[2] Leibniz: Monadologie, S. 139.

[3] Leibniz: Aus einem weiteren Brief an Varignon, S. 261.

[4] Leibniz: Aus einem weiteren Brief an Varignon, S. 261.

[5] Siehe Leibniz: Monadologie, Nr. 6, S. 111.

[6] Leibniz: Prinzipien der Natur, S. 155.

[7] Leibniz: Monadologie, S. 139 ff.

[8] Leibniz: Aus einem weiteren Brief an Varignon, S. 265.

[9] Siehe Leibniz: Über die Natur an sich, S. 291 f., sowie Leibniz: Aus einem Brief an de Volder, S. 317 f.

[10] Das nachfolgende ist bezieht sich auf die Schrift von Leibniz: Kurzer Beweis eines merkwürdigen Irrtums, S. 219 ff.

[11] Leibniz: Ein allgemeines Prinzip, S. 243. Siehe auch 245 f.

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