Huygens

Der Niederländer Christiaan Huygens (1629-1695) hat sich von Descartes für die Physik begeistern lassen. Im Gegensatz zu Descartes aber betrieb er von Anfang an tatsächlich eine mathematische Physik.

Auch im Gegensatz zu Descartes interessierten ihn allgemeine philosophische Prinzipien nicht. Stattdessen ging er durchgängig quantitativ-mathematisch vor. Er brachte jedes physikalische Problem in eine mathematische Form. Sicherlich experimentierte Huygens, aber wie bei Galilei, erwähnt er sie nicht bei der Darstellung seiner Theorien. Stattdessen präsentiert er seine Theorien in einem axiomatisch-deduktiven Stil. Bemerkenswert ist, dass all seine physikalischen Erkenntnisse ausnahmslos bis heute als gültig angesehen werden. Der Wissenschaftshistoriker Simonyi schreibt[1]:

„Mit Huygens hat die Physik ein Niveau erreicht, das mit der Grundausbildung an den heutigen Universitäten entspricht. Seine Untersuchungen […] gehen bereits über den Lehrstoff der Oberschulen hinaus und sind organischer Bestandteil der an den Universitäten gelehrten Mechanik. Mit diesen Untersuchungen wurde die Physik zu einer Fachwissenschaft, deren Aneignung und Weiterentwicklung die gesamte Energie eines Menschen erfordert.“

Er forschte unter anderem über folgende Themen: die Dynamik des freien Falls, die Stoßgesetze, das Pendel, Bewegungen auf Kreisbahnen (Zentrifugalkraft), Wellentheorie des Lichts. Er hat eine Vielzahl kleinerer Schriften veröffentlicht. Zu seinen wichtigsten Werken zählen:

  • Horologium oscillatorium sive de motu pendularium, veröffentlicht 1673; deutsch: Die Pendeluhr. Ostwalds Klassiker, 1913.
  • Bewegungen der Körper durch den Stoß, herausgegeben von Felix Hausdorff.
  • Traité de la lumière, 1690; deutsch: Abhandlung über das Licht. W. Engelmann, Leipzig 1890. Wellentheorie des Lichts.

Er beschäftigte sich auch mit technischen Anwendungen und erfand zahlreichen Maschinen und Instrumente. Eine seiner wichtigsten Erfindungen ist die Pendeluhr, die er so perfektionierte, dass sie bis auf zehn Sekunden genau am Tag lief. Außerdem erfand er die Taschenuhr basierend auf Unruh und Feder. Es gelang ihm, so gute Teleskope zu bauen, dass er den Saturnmond Titan entdeckte; außerdem erkannte er, dass sich Ringe um den Saturn befinden. Insofern ist Huygens auch ein Musterbeispiel, wie in der frühen Neuzeit Ingenieurskunst und Naturwissenschaft sich gegenseitig befruchteten.

Während Descartes, als auch später Newton jeweils eine Physik entwerfen, die möglichst viele Naturphänomene auf einmal umfassen soll, ist es typisch für Huygens, dass er sich auf ein spezielles physikalisches Teilproblem konzentriert. Auf zwei davon will ich ein wenig näher eingehen. Erstens die Stoßgesetze und zweitens die Pendeluhr.

Descartes meinte, dass alles Geschehen im materiellen Universum auf Druck und Stoß zurückführbar ist. Dementsprechend wichtig waren ihm die Stoßgesetze, die er in seinen Principia Philosophiae auflistete. Leider waren sie fast alles falsch. Huygens hingegen war der erste, der die Stoßgesetze korrekt formulierte. Dass Descartes‘ Stoßgesetze größtenteils falsch sind, ist insofern erstaunlich, als man sie ja sehr leicht empirisch überprüfen kann. Dass sich Descartes darüber hinweg setzte, ist charakteristisch für seinen Rationalismus, der Vernunfteinsicht und logische Deduktion über Erfahrungstatsachen stellt.

Huygens war durch und durch Mathematiker, so dass er jedes konkrete physikalische Problem in die Sprache der Mathematik übersetzte. Joella Yoder schreibt[2]:

„Das aufschlussreichste Merkmal von Huygens’ Forschungsmethode ist seine konsequente Berufung auf die Mathematik. Im Gegensatz zu Galileo […] hatte Huygens nur einen Zugang zur Natur. Natürlich beobachtete und experimentierte er, besonders an der Académie Royale, aber seine größten Erfolge erzielte ein Mann mit großer logischer Begabung, ein geborener Mathematiker, mit Stift und Papier. Sogar seine Erklärung des Saturnrings verdankte sich mehr der Schlussfolgerung als der Beobachtung. Auch seine Bestimmung der Erdbeschleunigungskonstante hatte wenig mit Experimenten zu tun. […]

In der Tat liegt die größte Ironie […] in den unterschiedlichen Herangehensweisen, die Huygens und der Vertreter der Royal Society, Hooke, an dasselbe Problem herangehen. Während Huygens den Schwingungsmittelpunkt seines Systems mathematisch herleitet, hängt Hooke schwere Eisenkugeln an Fäden auf. Während Huygens seine Studie über das zusammengesetzte Pendel abschließt, wiederholt Hooke Ricciolis unvollkommenes Experiment. Man bedenke, dass die Royal Society Huygens’ Werte nie bestätigt oder seine Ableitungen anerkannt hat. Die parallelen Flüsse der Mathematik und des Experimentierens vereinigten sich nicht in einem Strom unbestreitbarer Wahrheiten. Doch es war der Mathematiker Huygens, nicht der Experimentator Hooke, der die erste genaue Messung einer physikalischen Konstante vornahm […]“

Wie gesagt, auch wenn Huygens experimentierte, so stellte er doch seine Theorien in der klassischen axiomatisch-deduktiven Weise dar, ähnlich wie es bereits Euklid in seinen Elementen tat. An den Anfang stellte Huygens Definitionen und Axiome, wobei er letztere „Hypothesen“ nannte. Das könnte nahelegen, dass er seine Wissenschaft hypothetisch verstand. Das ist aber sicher nicht der Fall, da er, wie wir noch sehen werden, seine Hypothesen evident, und somit als notwendig wahr ansah.

Sehen wir uns die Hypothesen an, die Huygens in Zusammenhang mit den Stoßgesetzen formuliert hat[3]:

  1. Trägheit: Jeder beliebige sich bewegende Körper ist bestrebt, seine Bewegung geradlinig und mit konstanter Geschwindigkeit so lange beizubehalten, bis er auf irgendein Hindernis stößt.
  2. Stoßen zwei gleich Kugeln mit gleichen, aber entgegengesetzt gerichteten Geschwindigkeiten zusammen, so kehrt sich nach dem Stoß ihre Bewegungsrichtung um, ohne dass sich der Betrag ihrer Geschwindigkeiten ändert.
  3. Relativitätsprinzip: Die Stoßgesetze sind die gleichen für einen Beobachter auf einem Schiff, das sich mit einer beliebigen konstanten Geschwindigkeit bewegt, wie die für einen Beobachter am Ufer.

Um die Stoßgesetze auf Körper zu verallgemeinern, die ungleiche Massen haben, benötigt er noch folgende Hypothese:

  1. Bleibt beim Zusammenstoß zweier Körper der Absolutwert der Geschwindigkeit des einen Körpers unverändert (d.h. v1=-u1), dann ändert sich auch der Absolutwert der Geschwindigkeit des zweiten Körpers nicht (d.h. v2=-u2).

Bemerkenswert ist zunächst, dass hier erstmals das Relativitätsprinzip formuliert wurde, dem gemäß immer dieselben Naturgesetze gelten, unabhängig davon ob man ein ruhendes Koordinatensystem annimmt oder ein Koordinatensystem, das sich mit konstanter Geschwindigkeit geradlinig bewegt.

Bemerkenswert ist aber auch, dass die Gültigkeit dieser Hypothesen durchaus evident ist, wenn man über sie nachdenkt. Im Zweifel kann man sie durch einfache Experimente bestätigen. Huygens hat wohl eine Vorrichtung verwendet, über die Kugeln von verschiedenen Höhen herunterrollen konnten und frontal aufeinander trafen.

Die Problemstellung, die Huygens letztlich zur Erfindung der Pendeluhr führten, betraf die Erdbeschleunigung. Heute wissen wir, dass sie etwa g=9,81 m/s² beträgt. Wir wissen heute auch, dass sie auf der Erde nicht konstant ist. An den Polen ist sie ein wenig höher, am Äquator ein wenig niedriger. Mitte des 17. Jahrhunderts war all dies noch nicht bekannt. Huygens beschäftigte sich nun damit, die Erdbeschleunigung möglichst genau zu bestimmen. Dies brachte ihn zu Pendeln und anschließend zur Erfindung der Pendeluhr. Er stellte aber fest, dass Pendeluhren mit normalen Pendeln ziemlich ungenau gehen. Der Grund dafür ist, dass ein normales Pendel nicht isochron ist, d.h. seine Schwingungsdauer ist abhängig vom Ausschlag des Pendels. Gelingt es einem aber, die Bahn des Gewichtes so zu verändern, dass sie – mathematisch ausgedrückt – eine Evolvente einer Zykloide beschreibt, dann ist die Schwingungsdauer immer gleich, unabhängig von der Größe des Ausschlags. Eine Zykloide ist die Bahn, die ein Punkt auf dem Umfang eines Kreises beschreibt, wenn dieser Kreis auf einer Geraden abrollt.

Nachdem Huygens Uhren gebaut hatte, bei denen das Gewicht an einem Zykloidenpendel schwang, gelang es ihm die Genauigkeit der Pendeluhren beträchtlich zu verbessern. Interessant ist hierbei die Art, wie er auf die Lösung gekommen ist. Viele hätten wahrscheinlich versucht, durch Ausprobieren, durch empirischen Versuch und Irrtum weiterzukommen. Huygens hingegen dachte mathematisch über das Problem nach. So schreibt er in der Einleitung seines Werkes Die Pendeluhr[4]:

„Mit Hilfe der Geometrie habe ich aber eine bisher unbekannte Aufhängungsweise des Pendels gefunden. […] Nachdem ich diese Aufhängungsart bei Uhren angewendet hatte, wurde deren Gang so gleichmäßig und sicher, dass nach zahlreichen Versuchen zu Lande und zu Wasser nunmehr feststeht, dass die Uhren der Sternkunde und der Schifffahrt die größte Sicherheit verschaffen. […] Nachdem ich diese Entdeckung schon vor langer Zeit einigen Freunden […] mitgeteilt hatte […] habe ich sie nun noch mit einem möglichst genauen Beweise versehen.“

Er hat die Verbesserung der Zeitmessung durch Zykloidenpendel nicht nur mit Hilfe der Geometrie gefunden, ihm war es auch wichtig, dafür einen geometrischen Beweis zu finden. Eine geometrische Herleitung basiert immer auf bestimmten Grundannahmen („Hypothesen“) und man kann erst dann von einem geometrischen Beweis sprechen, wenn diese Grundannahmen evident sind, also den Charakter von Axiomen haben.

Bei der Pendeluhr ist eine dieser Hypothesen eine Form des Trägheitssatzes[5]. Und später formuliert er noch folgende Hypothese[6]:

„Wenn beliebig viele schwer Körper sich vermöge ihrer Schwere zu bewegen anfangen, so kann der gemeinsame Schwerpunkt all dieser Körper nicht höher steigen, als er sich im Beginn der Bewegung befand.“

Und zur Begründung dieser Hypothese schreibt er:

„Damit meine Hypothese selbst keinerlei Zweifeln begegnet, will ich zeigen, dass sie nichts anderes enthält, als was niemals jemand bestritten hat, dass nämlich schwere Körper sich nicht nach oben bewegen. Man stelle sich zunächst irgendeinen schweren Körper vor, so kann dieser ohne Zweifel sich nicht vermöge seiner Schwere nach oben bewegen. […] Stellen wir uns nun beliebig viele schwere Körper vor, die nicht miteinander verbunden sind, so […]“

Ich habe dieses Zitat abgebrochen, weil es mir auf die genaue Begründung nicht ankommt. Wichtig ist mir erstens, dass er davon spricht, dass diese Hypothese offenbar für unzweifelhaft wahr hält. Zweitens ist die Art interessant, wie er sie begründet, nämlich durch ein Gedankenexperiment, das an Galileis Gedankenexperimente erinnert. Wie bereits dargelegt, denke ich, dass Gedankenexperimente bei Galilei dieselbe Funktion haben wie die Induktion bei Aristoteles: Sie sollen Prinzipien evident machen. Und dasselbe tut Huygens. Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil Descartes, wohl das große Vorbild Huygens, in seinen Principia Philosophiae auf Gedankenexperimenten verzichtet hatte und stattdessen glaubte, jedes Axiom rational aus der Vollkommenheit Gottes beweisen zu können. Man sieht hier, dass Huygens faktisch deutlich näher bei Galilei ist als bei Descartes.

Nachfolgendes Zitat von Joella Yoder belegt, dass auch Huygens eine geometrisch-quantitative Naturauffassung hatte[7]:

„[…] für Huygens war die Natur im Grunde ein geometrisches Reich. Im Cosmotheoros argumentiert er, dass Menschen auf anderen Welten immer noch die euklidische Geometrie entwickeln würden, weil die gleichen mathematischen Prinzipien im ganzen Universum gelten. Mit anderen Worten, Mathematik ist kein abstraktes Konstrukt unseres irdischen Verstandes, sondern durchdringt die Natur. […]

Seine großartige Ableitung der Isochronie der Zykloide ist ein perfektes Beispiel für seine Haltung in Aktion. Der freie Fall ist nichts anderes als eine Parabel; Geschwindigkeit wird zu einer Linie verfeinert, die augenblicklichen Ereignisse einer Welt im Wandel werden zu Flächen summiert. Jeder physikalische Parameter wird entweder in die Geometrie aufgenommen oder durch die Verwendung von Proportionen eliminiert.“

Ähnlich wie für Galilei und Descartes ist für Huygens die Mathematik nicht nur ein Hilfsmittel zur Beschreibung von Naturphänomenen. Vielmehr gestattet die Mathematik, die Dinge so zu erkennen, wie sie an und für sich ihrem Wesen nach sind.

Einerseits genügte es Huygens, wenn „Experimente nicht im Widerspruch zur Mathematik stehen“ [8]. Wenn es aber andererseits doch zu Unstimmigkeiten kommt, zieht er sich auf den Standpunkt zurück, dass „alle Anomalien nur die Folge des Luftwiderstands wären“. Und selbst nachdem Mitglieder der Royal Society seine Werte nicht reproduzieren konnten, „ließ sich weder in seinem Ansatz noch in seinem Glauben, Recht zu haben, beirren“. Ich denke, dass man ähnlich wie bei Galilei und Descartes bei Huygens von einem asymmetrischen Empirismus sprechen kann.

Offensichtlich vertrat Huygens sicher nicht das moderne hypothetisch-empirische Wissenschaftsverständnis. Er hielt seine Naturwissenschaft vielmehr für apodiktisch und stellte überhaupt die mathematisch begründete Theorie deutlich über die Empirie. Er vertrat aber auch nicht das rationalistische Wissenschaftsmodell von Descartes, da er seine Axiome nicht durch übergeordnete Prinzipien zu beweisen suchte. In seiner Denkweise und seinem wissenschaftlichen Ansatz ähnelt er am meisten Galilei.

[1] Simonyi [80], S. 239. Siehe auch Yoder, Joella: Unrolling Time. Christiaan Huygens and the mathematization of Nature 1988; sowie Pulte S 91.

[2] Meine Übersetzung aus Yoder: Unrolling Time, S. 170.

[3] Nach Simonyi: Kulturgeschichte der Physik, S. 249.

[4] Huygens: Die Pendeluhr, S. 1.

[5] Die Pendeluhr, S. 27.

[6] Die Pendeluhr, S. 112.

[7] Meine Übersetzungen aus Yoder: Unrolling Time, S. 172 f.

[8] Alle Zitate sind meine Übersetzungen aus Yoder: Unrolling Time, S. 170.

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert