Descartes und die mathematische Naturwissenschaft


René Descartes (1596-1650) ist mit seinem „ich, denke also bin ich“, sowie dem damit verbundenen Dualismus von Bewusstsein und Materie der Gründungsvater der neuzeitlichen Philosophie.

Er verfasste auch naturphilosophischen Schriften etwa zehn Jahre nach Galilei und etwa zwanzig Jahre nach Bacon. Ende des 17. Jahrhunderts und Anfang des 18. Jahrhunderts hatten seine Theorien großen Einfluss auf das Denken der Naturwissenschaftler, bis sie von Newtons Physik verdrängt wurden. Galilei hatte sich darauf konzentriert, bestimmte physikalische Probleme zu untersuchen, wie den freien Fall, Flugbahnen von geworfenen Objekten, das Pendel oder die Frage, ob sich die Erde um die Sonne dreht. Descartes hingegen entwarf in seinem Werk Principia Philosophiae, das 1644 erschienen ist, ein gesamtes System, das alle Naturphänomene erklären sollte. Seine wichtigsten Werke sind:

  • Discours, veröffentlicht 1637 in Leiden.
    Ausführlicher Titel: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, kurz Discours, dt.: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung. Edition holbach 2017.
    Diesem Werk ist eine Schrift vorausgegangen, die Descartes etwa 1628 geschrieben hat, aber erst posthum veröffentlicht wurde:
  • Regulae, ausführlicher Titel: Regulae ad directionem ingenii, dt.: Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft oder Regeln zur Leitung des Geistes. Felix Meiner Verlag, 1962.
  • Meditationen, veröffentlicht 1641 in Paris.
    Ausführlicher Titel: Meditationes de prima philosophia, dt.: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Felix Meiner Verlag, Unveränderter Nachdruck von 1972.
  • Principia Philosophiae, veröffentlicht 1644 in Amsterdam. Dt.: Die Prinzipien der Philosophie. Felix Meiner Verlag, Lateinisch-Deutsch, 2007.
  • Über den Menschen, postum auf Latein 1662 veröffentlicht als De Homine.

Der Ausgangspunkt der cartesischen Philosophie

Der Ausgangspunkt seines Nachdenkens war die Erkenntnis, „dass, obgleich [die Philosophie] seit vielen Jahrhunderten von den ausgezeichnetsten Geistern gepflegt worden ist, dessen ungeachtet kein Satz darin unbestritten und folglich unzweifelhaft ist.“[1] Descartes warf der zeitgenössischen, aristotelisch geprägten Philosophen vor, dass sie ihre Begriffe dunkel und verworren verwendeten und dass auch die formale Logik nur zur Vernebelung beiträgt. Stattdessen war sein Ziel, der Philosophie eine sichere Grundlage zu geben.

Dazu machte er sich die Mathematik zum Vorbild. Seiner Auffassung nach ist die Mathematik deswegen eine so erfolgreiche Wissenschaft, weil sie erstens eine Methode verwendet, die sicher zu wahren Erkenntnissen führen würde. Zweitens macht sie sich nur das zum Gegenstand ihrer Untersuchungen, bei dem sichere Erkenntnis überhaupt möglich ist, nämlich geometrische Sachverhalte und Zahlen, wohingegen sie einen großen Bogen um dunkle Qualitäten und unverständliche Begriffe macht.

Indem sich Descartes an der Mathematik orientiert sucht er also erstens nach der richtigen Methode, die der Philosophie sicher zu wahren Erkenntnissen verhelfen soll, und zweitens nach dem richtigen Gegenstand des Philosophierens, d.h. einen solchen Gegenstand, der überhaupt unumstößlich wahre Erkenntnis zulässt.

Die richtige Methode

Wie sehr sich Descartes die Mathematik zum Vorbild seines Philosophierens macht sieht man beispielsweise an den folgenden Zitaten aus dem Discours de la méthode:

„Die lange Kette einfacher und leichter Sätze, deren die Geometer sich bedienen, um ihre schwierigsten Beweise zustande zu bringen, ließ mich erwarten, dass alle dem Men­schen erreichbaren Dinge sich ebenso folgen.“ [2]

„Ich habe mich immer fest an den Satz gehalten, … nichts für wahr zu halten, was mir nicht noch klarer und deutlicher war, als es früher die geometrischen Beweise gewesen waren.“ [3]

In den Regulae ad Directionem Ingenii spricht er sogar von einer zu schaffenden allgemeinen Wissenschaft, die er als „Universal­mathematik“ bezeichnet[4].

Ähnlich wie Bacon hält Descartes wenig von der traditionellen, aristotelischen Logik. Er stellt fest, dass sie für die (damalige) mathematische Erkenntnis völlig nutzlos ist. Während die Logik nur formal voranschreitet, würde die Mathematik durch klare inhaltliche Einsicht zu ihren Erkenntnissen gelangen. Auch von formalen Begriffsdefinitionen hält er wenig. Was beispielsweise ein geometrischer Punkt ist, müsse man eigentlich nicht umständlich definieren, selbst wenn das Euklid in seinen Elementen so macht. Tatsache ist, dass Euklid solche Definitionen im Fortgang seiner geometrischen Beweise kein einziges Mal benutzt hat. Dementsprechend ist es verständlich, wenn Descartes formale Definitionen für verzichtbar hält. Stattdessen sei es für die Vernunfteinsicht inhaltlich unmittelbar klar, was beispielsweise ein Punkt ist.

Anstelle einer formalen Methode sucht Descartes also eine inhaltliche Methode, um sicher zu wahren Erkenntnissen zu gelangen. Übrigens hat er damit einen ähnlichen Ansatz wie Bacon. Allerdings findet Descartes die richtige Methode nicht in einer neuen, systematischen Induktion, sondern in Regeln für den rechten Vernunftgebrauch. Im Discours formuliert er die folgenden vier Regeln:

  1. Akzeptiere nur als wahr, was unbezweifelbar gewiss ist.
  2. Zerlege jede Frage in Teilprobleme und einfache Fragen, die mit Gewissheit entschieden werden können.
  3. Baue das Wissen der Reihe nach aus den Antworten auf diese einfachen Fragen auf und unterstelle für alle komplexen Fragen einen solchen einfachen Aufbau.
  4. Überprüfe diese Elemente daraufhin, ob sie eine vollständige Ordnung bilden. Achte darauf, nichts Wesentliches außer Acht zu lassen.

Bereits an der ersten Regel ist ersichtlich, dass es Descartes um unumstößlich wahre Erkenntnisse geht. Um dies zu erreichen, nennt Descartes zwei Wege: erstens die klare und evidente Intuition, und zweitens die sichere Deduktion. Die Intuition beschreibt er als „… ein so einfaches und distinktes Begreifen des reinen und aufmerksamen Geistes, dass über das Erkannte weiterhin kein Zweifel übrigbleibt, oder, was dasselbe ist, das über jeden Zweifel erhabene Begreifen eines reinen und aufmerksamen Geistes, das allein dem Lichte der Vernunft entspringt.“ [5] Eine Deduktion hingegen ist eine längere Beweiskette, die in viele kleine Einzelschritte aufgeteilt werden kann, die dann jeweils durch vernünftige Intuition einsichtig sind.

Aus moderner Sicht bemerkenswert ist, dass nach Descartes eine vernünftige Einsicht bereits genügt, damit eine Aussage wahr ist. Dabei ist es vollkommen belanglos, ob die Aussage mit empirisch überprüfbaren Tatsachen übereinstimmt oder nicht. Wahr ist nach Descartes vielmehr etwas, wenn es klar und distinkt erkannt wird[6]. Das sind sozusagen qualitative Merkmale des mentalen Aktes, ohne dass man eine Bestätigung durch äußere, objektive Sachverhalte bräuchte. Dies kann man, denke ich, auch am besten anhand der Mathematik verstehen. Denn tatsächlich genügt es z.B. für die geometrische Erkenntnis, dass man entweder ein Axiom als gültig begreift oder einen geometrischen Beweis geistig nachvollziehen kann. Eine Übereinstimmung mit empirisch gegebenen Dreiecken oder Kreisen ist für die Mathematik völlig unwichtig, die Wahrheit einer geometrischen Erkenntnis wird alleine durch die intellektuelle Einsicht gewährleistet.

Zwar sagt Descartes in den Regulae[7], dass es drei „Erkenntniswerkzeuge“ gibt: nämlich die Sinne, die sinnliche Anschauung und den reinen Verstand. Er fährt aber fort, „…, dass die Wahrheit im eigentlichen Sinne bloß dem Verstand allein entstammen kann.“ Und ferner: „… dass allein der Verstand der Erkenntnis fähig ist.“ Eine andere Textstelle, die zeigt, wie wenig Descartes von der Sinneswahrnehmung hält, findet man in den Meditationen[8]:

„Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr angenommen habe, habe ich von den Sinnen oder durch Vermittlung der Sinne empfangen. Nun aber bin ich dahinter gekommen, dass diese uns bisweilen täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, niemals denen ganz zu trauen, die auch nur einmal uns getäuscht haben.“

Wie wir weiter unten sehen werden, spielt auch bei seiner Naturphilosophie die Empirie eine sehr untergeordnete Rolle. Stattdessen will Descartes alles rein rational beweisen. Das ist auch der Grund, warum Descartes seine Physik mit einem Gottesbeweis beginnen lässt[9]. Den benötigt er, weil er viele naturwissenschaftliche Axiome mit der Vollkommenheit Gottes begründen will. Das fängt damit an, dass die Vollkommenheit Gottes nach Descartes sicherstellt, dass das, was wir klar und deutlich erkennen, auch tatsächlich und wahrhaftig so ist. Ansonsten wäre Gott ein Betrüger, was unmöglich sein kann[10].

Der richtige Gegenstand: cogito ergo sum

Descartes meint ferner, dass die Philosophie nicht mit irgendetwas Beliebigem ihren Anfang nehmen sollte, sondern dass es auch auf den richtigen Gegenstand des Philosophierens ankomme. Ähnlich wie die Mathematik nicht irgendetwas untersucht, sondern ihren Ausgang von geometrischen und quantitativen Sachverhalten nimmt. So schreibt er in den Regulae[11]:

„Hierdurch wird klar, weshalb Arithmetik und Geometrie mit weit größerer Sicherheit vor allen übrigen Wissenszweigen bestehen: weil nämlich sie allein sich mit einem so reinen und einfachen Gegenstand beschäftigen, dass sie … gänzlich in verstandesmäßig abzuleitenden Folgerungen bestehen…. aus alledem folgt, … dass die, welche den rechten Weg zur Wahrheit suchen, sich mit keinem Gegenstand beschäftigen dürfen, von dem sie nicht eine den arithmetischen und geometrischen Beweisen gleichwertige Gewissheit zu erlangen imstande sind.“

Sein explizites Ziel besteht also darin, einen solch „reinen und einfachen Gegenstand“ zu finden, damit künftig auch die Philosophie auf ähnlich sicherer Grundlage wie die Mathematik stehen könne. Und diesen Gegenstand, der unzweifelhafte philosophische Erkenntnis zulassen soll, wird Descartes, wie wir sehen werden, in der res cogitans, dem denkenden Ich, finden.

Dabei geht Descartes wie folgt vor. Wenn man eine Grundlage sucht, die völlig sicher und unzweifelhaft ist, ist es naheliegend, zunächst zu untersuchen, was alles zweifelhaft ist. So macht Descartes ein berühmtes Gedankenexperiment[12], das man auch das cartesische „systematische Zweifeln“ genannt hat, nämlich:

Bezweifle alles, was nur zu bezweifeln geht und siehe zu, was am Ende als unzweifelhaft übrigbleibt!

Das heißt: Descartes fordert dazu auf, alles, was man bisher als selbstverständlich wahr angenommen hat, anzuzweifeln. Alles sinnliche Wahrgenommene könnte eine Täuschung sein. Man kann sich vorstellen, dass alles nur ein Traum ist oder dass alle Mitmenschen nur perfekte Automaten sind, oder dass der eigene Körper nicht wirklich existiert. Ferner kann man einen mächtigen bösen Geist annehmen, der uns Einsichten in mathematische Sachverhalte nur vortäuscht, die tatsächlich gar nicht gültig sind. Wie sehr dieser allumfassende Zweifel ein konstruiertes Gedankenexperiment ist, sieht man sehr gut im Anhang zu den zweiten Erwiderungen in den Meditationes[13]:

„[ich fordere], dass die Leser bemerken, wie schwach die Erwägungen sind, derentwegen sie bisher ihren Sinnen geglaubt haben, und wie ungewiss alle Urteile sind, die auf ihnen aufgebaut haben, und dass sie dies so lange und so oft bei sich wiederholen, bis sie schließlich die Gewohnheit bekommen, ihnen nicht mehr zu trauen. [meine Hervorhebung]“

Descartes sieht es also durchaus als künstlichen, schwer zu vollziehenden Akt an, alles in Zweifel zu ziehen. Man muss es oft wiederholen und sich daran – mit Mühe – daran gewöhnen. Man muss es regelrecht trainieren. Dieses Alles-in-Zweifel-Ziehen ist also eine gedankliche Anstrengung, eben ein Gedanken­experiment, dessen Sinn, wie gesagt, darin besteht, das zu finden, was unanzweifelbar ist[14]:

„Indem wir so alles nur irgend Zweifelhafte zurückweisen und es selbst als falsch gelten lassen, können wir leicht annehmen, dass es keinen Gott, keinen Himmel, keinen Körper gibt; dass wir selbst weder Hände noch Füße, überhaupt keinen Körper haben; aber wir können nicht annehmen, dass wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass das, was denkt, zu dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht existiert. Demnach ist der Satz: ich denke, also bin ich, die allererste und gewisseste aller Erkenntnisse, die sich jedem ordnungsgemäß Philosophierenden darbietet.“

So glaubt Descartes schließlich denjenigen Gegenstand freilegen zu können, der der Philosophie eine Grundlage für sichere, absolut unzweifelhafte Erkenntnis geben soll: nämlich die res cogitans, das erkennende Ich samt seinem dem subjektiven Bewusstseinsstrom.

Die Grundidee ist ganz einfach. Bei allem, was ich erkenne, denke, wahrnehme, erfühle, höre, sehe etc. kann es immer sein, dass ich mich täusche: Der Gegenstand des Erkennens, Denkens, Wahrnehmens etc. könnte in Wirklichkeit anders sein als ich meine. Woran aber kein Zweifel bestehen kann, ist die Tatsache, dass ich eben gerade erkenne, denke, wahrnehme etc. Der Strom des „ich denke“, „ich sehe“, „ich höre“, etc. ist unmittelbar wahr und unzweifelhaft. Dieser Bewusstseinsstrom in seiner Gesamtheit nennt er die res cogitans, um sie der äußeren zweifelhaften Wirklichkeit entgegenzusetzen.

Descartes geht aber noch einen Schritt weiter. Der Bewusstseinsstrom ist ja zunächst eine Aneinanderreihung verschiedener innerer Erlebnisse: „ich denke dies“, „ich denke das“, „ich zweifle an diesem“, „ich zweifle an jenem“, etc. Nach Descartes ist es erlaubt, aus dieser Vielzahl von Bewusstseinserlebnissen auf ein „Ich“ zu schließen, das der einheitlichen Träger all dieser Erlebnisse ist. Das eine erkennende Subjekt, für das all diese Bewusstseinserlebnisse sind. So schließt Descartes vom „ich denke“ auf das „ich bin“. Ich denke, also bin ich. Wie ein materielles Ding zwar verschiedene wechselnde Eigenschaften haben kann, aber das Ding als Träger dieser Eigenschaften immer gleichbleibt, so kann das Ich zwar viele verschiedene Bewusstseinserlebnisse haben, das Ich aber als Träger dieser Erlebnisse bleibt immer dasselbe. Das Ich ist gewissermaßen die geistige, intellektuelle Substanz, an der die verschiedenen Bewusstseinszustände als Akzidenzien sind.

Jedenfalls glaubt Descartes eine sichere, unumstößliche Grundlage in der res cogitans gefunden zu haben, ähnlich wie die Arithmetik in Zahlen oder die Geometrie in räumlichen Figuren. Und mit diesem neuen Gegenstand beginnt tatsächlich eine neue Ära der Philosophie.

Descartes‘ weiterer Gedankengang ist, kurz skizziert, so: Er verwendet die unumstößlich sichere Basis der res cogitans dazu, die Existenz Gottes, d.h. eines vollkommenen, allmächtigen und gütigen Wesens, zu beweisen. Die Existenz Gottes gewährleistet dann nach Descartes, dass alles, was wir klar und deutlich erkennen, auch wahr ist. Denn ansonsten wäre Gott ein Betrüger, was nicht sein kann.

Dualistisches Weltbild

Als Träger der Bewusstseinserlebnisse ist das Ich eine immaterielle, geistige Substanz, die Descartes der Gesamtheit der materiellen Substanzen gegenüberstellt. Die menschliche Seele ist wesentlich eine res cogitans, ein „denkendes Ding“. An einem materiellen Ding hingegen ist es nach Descartes wesentlich, dass es eine res extensa ist, d.h., dass es im Raum ausgedehnt ist, sowie eine geometrische Gestalt hat und im Raum bewegt ist. Das materielle Ding ist also identisch mit seinen geometrisch-quantitativen Eigenschaften.

So gelangt Descartes zu einem schroffen dualistischen Weltbild. Auf der einen Seite ist die res cogitans mit seinen mannigfaltigen Bewusstseinserlebnissen, dem Empfinden, Wahrnehmen, Fühlen, Denken, aber auch dem Wollen, dem Begehren und den moralischen Entscheidungen. Damit ist die geistige Welt auch die Welt der Freiheit und des aktiven Handelns.

Dem gegenüber steht die räumlich ausgedehnte, materielle Natur, in der alles mit mechanistischer Notwendigkeit abläuft. Hier gibt es keinerlei Bewusstsein, sondern nur unbeseelte Materieteilchen, die ihren Bewegungszustand nicht von sich aus ändern können, sondern nur indem sie von etwas anderem dazu veranlasst werden. Während der denkende Geist aktiv ist, sind materielle Partikel vollkommen passiv. Einmal angestoßen, bleiben sie gemäß dem Trägheitsgesetz in geradliniger Bewegung, solange bis sie auf ein anderes materielles Ding stoßen.

Descartes versteht das Trägheitsprinzip erstmals so, wie es später auch Newton und überhaupt die moderne Physik tun wird, dass nämlich eine geradlinige Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit ein passiver Zustand von Materieteilchen ist, ähnlich wie auch die Ruhe ein passiver Zustand der Materie ist. Letztlich sind beide nicht unterscheidbar. Und wie keine Kraft notwendig ist, damit ein ruhender Körper in Ruhe bleibt, so ist auch keine Kraft notwendig, um einen Körper, der sich geradlinig mit einer konstanten Geschwindigkeit bewegt, in dieser Bewegung zu belassen. Eine Kraft ist nur dann notwendig, wenn ein ruhender Körper in Bewegung versetzt wird, oder wenn eine gleichförmige, geradlinige Bewegung geändert wird. Ohne äußere Ursache, würde sich die Ruhe als auch die gleichförmige, geradlinige Bewegung bis in alle Ewigkeit fortsetzen.

Damit ändert sich fundamental die Sichtweise auf Bewegung und Ruhe[15]. Bei Aristoteles waren Ruhe und Bewegung entgegengesetzt. Ruhe galt als Zustand, Bewegung aber sollte es nur aufgrund der Einwirkung einer Kraft geben. Bei Descartes und Newton hingegen sind gleichbleibende, geradlinige Bewegungen und Ruhe letztlich ununterscheidbare Zustände. So besagt das Trägheitsgesetz: Wenn ein Körper erst einmal in einem solchen Ruhe- bzw. Bewegungszustand ist, dann bleibt er darin, sofern keine äußere Kraft stört.

Galilei formulierte übrigens nur deswegen eine Vorform des Trägheitsprinzips[16], weil er noch Kräfte annahm, die in dem Körper die Trägheit bewirken. So als würde das fahrende Schiff einem Gegenstand, den man auf ihm stehend hochwirft, eine Art Schwung mitgeben. Auch Leibniz und Kant sprechen von einer Trägheitskraft, also einem in den Dingen aktiv wirkenden Prinzip, das einer Bewegungsänderung entgegenwirkt. Für Descartes hingegen hat die Materie von sich auch überhaupt nichts Aktives und ist vollkommen passiv. Eigenständige Aktivität gibt es seiner Anschauung nach nur im Bereich des Geistes.

So muss nach Descartes das gesamte Geschehen in der materiellen Welt alleine auf Druck und Stoß, als auch auf die (passive) Trägheit der Materie zurückgeführt werden. Er behauptet, dass sich alle Naturerscheinungen alleine aus den Bewegungs- und Stoßgesetzen erklären lassen, die er in seinen Principia aufgestellt hat. Mit Bezug auf sein allgemein formuliertes Stoßgesetz schreibt er[17]:

„In diesem Gesetz sind alle besonderen Ursachen der Veränderungen, die den Körpern widerfahren, enthalten, zumindest diejenigen, die selbst körperlich sind.“

Nach Descartes ist alleine der Mensch sowohl in der geistigen Welt als auch in der materiellen Welt zuhause. Pflanzen und Tiere hingegen sind ausschließlich Teil der materiellen Wirklichkeit. So scheint es zwar, dass auch Tiere empfinden und denken würden, tatsächlich aber sind sie nur sehr gut konstruierte mechanische Automaten. In seiner Schrift Über den Menschen vergleicht Descartes den menschlichen Körper mit einer Maschine und entwirft eine mechanistische Physiologie.

Descartes vertritt also eine streng mechanistische Auffassung von der gesamten materiellen Wirklichkeit.

Die Wirkung, die ein Stück Materie beim Aufprall auf ein auf ein anderes Ding ausübt, hängt nach Descartes von zwei Faktoren ab, erstens von seiner Masse und zweitens von seiner Geschwindigkeit. Je mehr Masse etwas hat, desto heftiger der Aufprall. Und je höher die Geschwindigkeit ist, desto heftiger der Aufprall. Dem entsprechend spielt bei Descartes eine physikalische Größe eine zentrale Rolle, die heute „Impuls“ genannt wird, bei Descartes aber „Quantität der Bewegung“ heißt, nämlich das Produkt der Masse eines Materieteilchens und seiner Geschwindigkeit: . Diese Größe wird uns später bei Leibniz und Newton wiederbegegnen.

Eines der wichtigsten Grundsätze der cartesischen Physik ist der Impulserhaltungssatz. Er besagt, dass die Summe der Impulse von Materieteilchen in einem abgeschlossenen System konstant bleibt. Der Gesamtimpuls kann nicht zu- oder abnehmen: \(\sum m \cdot v = const \).

Descartes‘ festen Überzeugung nach schuf Gott die Welt anfangs so, dass sie sich vollständig in homogene materielle Körper verschiedener Größen und Formen zergliederte, und zwar ohne Zwischenräume wie eine Art dreidimensionales Puzzlespiel. Außerdem habe Gott am Anfang der Schöpfung die passive Materie mit einer bestimmten Bewegungsquantität versehen hat, die die Materie in Bewegung versetzt, also zu einem beständigen Stoßen und Drücken der Materieteilchen führt, seitdem aber in Summe gleichgeblieben ist.

Durch dieses beständige Stoßen und Drücken haben sich im Laufe der Zeit Materieteilchen in gröberen oder feineren Größen abgeschliffen, so dass verschiedene Arten von Materie entstanden sind. Der feinstofflichste Urstoff ist das Feuer, ein wenig gröber ist die Luft und der gröbste Urstoff ist die Erde. Atome und leerer Raum kommen in seiner Theorie nicht vor. Stattdessen bilden diese drei Urstoffe ein Gemisch, das den gesamten Weltraum vollständig ausfüllt und das in verschiedene Wirbelbewegungen gerät, so dass auf diese Weise die einzelnen Sterne und Planeten entstehen. Nach Descartes bewegen sich die Himmelskörper nicht über Flugbahnen durchs Weltall, sondern werden durch verschiedenste Wirbel durchs Universum getragen. Auch das Naturphänomen der Gravitation glaubte er durch Materiewirbel erklären zu können.

Mathematisierung der Natur bei Descartes

Dijksterhuis schreibt[18]:

„Man kann nun den Standpunkt von Descartes nicht besser umschreiben, als indem man sagt, dass er diesen Gedanken [der Mathematisierung der Natur] bis zu seinen äußersten Konsequenzen durchgeführt, d.h. Mathematik und Naturwissenschaft faktisch identifiziert hat. Die Naturwissenschaft ist nicht nur mathematischer Art in dem weiteren Sinne, dass die Mathematik ihr in irgendeiner Form dient, sondern auch in dem viel engeren, dass der menschliche Geist das Wissen über die Natur in gleicher Weise aus sich selbst heraus erzeugt, wie er dies mit der Mathematik tut.“

Nach Descartes ist ein materielles Ding, wie gesagt, wesentlich eine res extensa, das heißt: sein Wesen ist identisch mit seiner geometrischen Ausdehnung. Damit wendet sich Descartes gegen den aristotelischen Wesensbegriff, wonach z.B. ein Mensch deswegen ein Mensch, weil in ihm das Menschsein im Allgemeinen wirksam ist. Dieses Menschsein ist sein (aristotelisches) Wesen. Was aber dieses Wesen genau ist und wie es genau in dem konkreten Lebewesen wirksam sein soll, ist höchst unklar, um nicht zu sagen obskur. Galilei drückte sich so aus, dass man, wenn man nicht geometrisch argumentiert, schnell in ein Labyrinth geraten würde. In diesem Sinne sagt auch Descartes[19]:

„Die körperliche Substanz kann, wenn sie von ihrer Quantität unterschieden wird, nur verworren als gewissermaßen unkörperlich aufgefasst werden.“

Und ähnlich wie Galilei vor ihm, beantwortet Descartes einige physikalische Fragen durch rein geometrische Argumente. Warum kann es kein Vakuum geben? Antwort: Ein Vakuum müsste in einem Gefäß eingeschlossen sein. Durch dieses Gefäß wird aber eine bestimmte räumliche Gestalt definiert. Diese räumliche Gestalt ist aber als solche bereits eine körperliche Substanz: „Denn daraus, dass ein Körper in Länge, Breite und Tiefe ausgedehnt ist, folgern wir zu Recht, dass er eine Substanz ist, weil es völlig widersinnig ist, dass dem Nichts irgendeine Ausdehnung zukommen sollte.“[20] Also kann es kein Vakuum geben.

Kann es unteilbare Atome geben? Nein: „Weil es nämlich, wenn es [Atome] gäbe, unausweichlich wäre, dass sie […] ausgedehnt sind, können wir dennoch gedanklich ein jedes von ihnen in zwei oder noch mehr kleinere Teile teilen, und müssen deshalb zugeben, dass sie teilbar sind.“[21]. Descartes schließt hier somit von der unbegrenzten Teilbarkeit des geometrischen Raumes auf die unbegrenzte Teilbarkeit der physikalischen Materie. Schließlich behauptet er, dass das Weltall räumlich unbegrenzt sein muss, weil wir gedanklich jede räumliche Beschränkung überschreiten können.

Genau wie Galilei glaubt Descartes, dass Erkenntnisse, die er auf der ideal-geometrischen Ebene gefunden hat, ohne Weiteres auch für die reale, materielle Welt gelten. Beide vertreten dieselbe geometrisch-quantitative Naturauffassung. Vertreten beide auch dasselbe Wissenschaftsmodell?

Das cartesische Wissenschaftsverständnis

Zunächst scheint es, dass Descartes dasselbe Wissenschaftsverständnis wie Galilei hat. Die nachfolgenden Textstellen zeigen, dass nach Descartes die Naturwissenschaft axiomatisch-deduktiv aufzubauen ist mit evidenten Axiomen an der Spitze, aus denen unumschränkt gewisse, notwendige Wahrheiten hergeleitet werden. Ferner bekennt er sich zur geometrischen Beweisführung:

„Wenn wir uns allein solcher Prinzipien bedienen, die wir als ganz evident durchschaut haben, und wenn wir aus diesen Prinzipien alles durch mathematische Folgerungen ableiten, und wenn dann das, was wir so aus ihnen herleiten werden, mit allen Naturphänomenen übereinstimmt, dann würde unser Argwohn, dass die auf diese Weise von uns ermittelten Ursachen der Sachverhalte falsch seien, Gott Unrecht tun, weil wir dann nämlich auch argwöhnen können, er habe uns so unvollkommen geschaffen, dass wir uns im richtigen Gebrauch der Vernunft täuschen.“ (III.43)

„Ich lasse in der Physik keine anderen Prinzipien gelten als solche, die der Geometrie oder der reinen Erkenntnis (mathesis abstracta) entnommen sind, und wünsche das auch nicht, weil sich auf diese Weise alle Naturphänomene erklären und sie durch sichere Beweise bestätigt werden.“ (II.44)

Das scheint zunächst sehr nach Galileis „neuer Wissenschaft“ zu klingen. Tatsächlich formuliert er in den Principia ein paar „Naturgesetze“, die offenbar den Status von Axiomen haben und aus denen alle weiteren naturwissenschaftlichen Theoreme hergeleitet werden. Einer seiner wichtigsten physikalischen Grundsätze ist, wie gesagt, der Impulserhaltungssatz[22]. Descartes spricht aber nicht vom „Impuls“, wie wir diese physikalische Größe heute nennen, sondern von der „Quantität der Bewegung“. Sie ist das Produkt der Masse eines Materieteilchens und seiner Geschwindigkeit ist: . Der Impulserhaltungssatz besagt, dass die Summe der Impulse von Materieteilchen in einem abgeschlossenen System konstant bleibt. Der Gesamtimpuls kann nicht zu- oder abnehmen.

Des Weiteren formuliert Descartes zwei Naturgesetze, die zusammen heute als Trägheitsprinzip bekannt sind:

„Ein jedes Ding behält von sich aus denselben (Bewegungs-)Zustand bei, und daher fährt ein Ding, das sich einmal in Bewegung gesetzt hat, immer fort sich zu bewegen.“ (II.37)

„Jede Bewegung ist aus sich selbst heraus geradlinig […]“ (II.39)

Schließlich stellt er ein allgemeines Stoßprinzip auf[23], aus dem er acht sogenannte Regeln dafür ableitet, was geschieht, wenn verschiedene Körper aufeinander stoßen[24]. Von diesen Regeln ist allerdings nur eine richtig, alle übrigen stehen mit den Erfahrungstatsachen im Widerspruch.

In der gerade zitierten Textstelle[25] sagt Descartes, dass die aus Axiomen hergeleiteten Theoreme auch mit den Erfahrungstatsachen übereinstimmen sollen. Das klingt erst einmal ansatzweise nach Empirismus. Jedenfalls scheint er die Empirie als Wahrheitskriterium anzuerkennen. Näher besehen, ist das aber eher ein Lippenbekenntnis, denn es ist auffällig, dass Descartes seine rational hergeleiteten Naturgesetze so gut wie nie mit Erfahrungstatsachen oder Experimenten konfrontiert. Eher im Gegenteil. Oben habe ich bereits hingewiesen, dass alle bis auf eine seiner Stoßregeln mit den Erfahrungstatsachen im Widerspruch stehen.

Das heißt: Entweder hat Descartes keine konkreten Stoßversuche unternommen und ohne empirische Überprüfung seinen rational hergeleiteten Regeln vertraut, oder er hat sich einfach über die Ergebnisse dieser Experimente wissentlich hinweggesetzt. Simonyi glaubt an letzteres[26]:

„Auch Descartes hat selbst gewusst, dass seine Ergebnisse nicht in jedem Falle mit der alltäglichen Erfahrung übereinstimmen, nichtsdestoweniger hat er ein lebendiges Beispiel für die von Bacon herausgestellten Schwächen abgegeben und die Ursache lieber in den Versuchsbedingungen als in einem Fehler seiner Theorie gesehen.“

Simonyi zitiert auch Descartes[27]:

„Der Beweis [dieser Regeln] beruht auf so festen Grundlagen, dass, selbst wenn die Erfahrung das Gegenteil zu beweisen schiene, wir eher unsere Vernunft als unseren Sinnen Glauben schenken müssen.“

Descartes ist ein gutes Beispiel für das, was ich asymmetrischen Empirismus genannt habe. Erfahrungstatsachen, die in sein Konzept passen, werden als Belege angeführt, widersprechende Erfahrungstatsachen hingegen geleugnet. Er wendet dazu eine Art rhetorischen Trick an. Widersprechende Erfahrungen führt er auf naive, „kindliche“ Wahrnehmungen zurück, die wir uns in unserer unwissenden Kindheit angeeignet haben und von denen wir uns im Erwachsenenalter noch nicht trennen konnten, – obwohl wir es inzwischen eigentlich besser wissen müssten.

So entspricht es ja unserer Alltagserfahrung, dass auf ruhende Dinge keine Kraft einwirkt, und sie sich nur solange bewegen, wie eine Kraft einwirkt. Darauf bezogen schreibt er[28]:

„Das haben wir uns deshalb seit unserer Kindheit eingeredet, weil unser Körper sich gewöhnlich aufgrund unseres Wissens […] bewegt […].“

Descartes meint stattdessen, dass gemäß dem Trägheitsprinzip auch Dinge, die einmal in Bewegung versetzt sind, auch ohne weitere Krafteinwirkung in Bewegung bleiben. Hierfür bringt er als empirischen Beleg Wasserfahrzeuge in einem ruhenden Gewässer, die einmal angeschubst, weiterfahren. Diese Erfahrung, obwohl sie ja nur mit Einschränkung das Trägheitsprinzip bestätigt, weil in der Praxis ja jedes Boot dennoch irgendwann zum Stehen kommen wird, nimmt Descartes als Bestätigung. Die zuerst genannte Erfahrung hingegen tut er als kindische Täuschung ab. Ähnlich argumentiert Descartes in II.37. Und in III.1 stellt er der augenscheinlichen, aber täuschenden Erfahrung die „unbezweifelbare Vernunfteinsicht“ gegenüber.

All dies, der axiomatisch-deduktive Aufbau einer Naturwissenschaft mit Anspruch auf notwendige Gültigkeit, die Hochschätzung der Geometrie, der asymmetrische Empirismus erinnern Galileis Wissenschaftsmodell. Andererseits gibt es auch Unterschiede.

Galilei macht seine Prinzipien evident anhand von konkreten Beispielen und vor allem durch Gedankenexperimente. Darauf verzichtet Descartes völlig. Stattdessen glaubt er jedes seiner Axiome selbst beweisen zu können, wobei diese Beweise eigentlich immer auf die Vollkommenheit und Unveränderlichkeit Gottes hinauslaufen. So müsse z.B. die Summe der Bewegungsquantität eines Systems erhalten bleiben, weil es nicht zu Gottes perfekter Beständigkeit und Unveränderlichkeit passen würde, ein unbeständiges, veränderliches Gesetz zu schaffen. Jedenfalls versucht Descartes nicht einmal ansatzweise, die aufgestellten Naturgesetze empirisch zu begründen oder auch nur anhand konkreter Beispiele zu illustrieren. Und das ist ja auch der Grund dafür, dass er seine Physik mit einem Beweis der Existenz Gottes beginnt.

Während also bei Galilei die Wahrheit seiner Axiome durch Vernunfteinsicht gewährleistet ist, wird sie bei Descartes aus übergeordneten Prinzipien rational bewiesen. Sein Wissenschaftsmodell werde ich daher rationalistisch nennen. Nach Descartes werden ihm noch Leibniz, Euler, Lagrange und andere Vertreter der analytischen Mechanik des 18. Jahrhunderts anhängen. Wobei es einen kleinen Unterschied gibt zwischen Descartes und Leibniz auf der einen Seite und Euler und Lagrange auf der anderen Seite. Descartes und Leibniz wollen die Axiome mit der Vollkommenheit, Güte und unendlichen Weisheit Gottes zu begründen, also metaphysisch. Euler und Lagrange versuchen die obersten Prinzipien mittels physikalisch-mathematischen Argumenten zu belegen, also naturwissenschaftlich.

Das rationalistische Wissenschaftsmodell

(C 1) Das Ziel der Naturwissenschaft ist es, zu unumstößlichen, notwendigen Wahrheiten zu gelangen.

(C 2) Die Naturwissenschaft hat oberste Prinzipien oder Axiome.

a) Diese Axiome treffen das mathematische Wesen der Natur und sind deswegen auch mathematisch formuliert (oder sollten es zumindest sein);

b) Die Axiome sind beweisbar entweder mittels metaphysischer Gründe oder mittels physikalisch-mathematischer Gründe. Im ersten Fall ist die Naturwissenschaft ein Zweig der Metaphysik, im zweiten Fall ist sie ein Zweig der Mathematik.

c) Aufgrund von b) sind sie notwendig wahr sind.

(C 3) Induktion spielt keine oder kaum eine Rolle

Denn die Prinzipien gelten als beweisbar. Die Prinzipien der Naturwissenschaft müssen weder aus den Naturphänomenen induktiv abgeleitet werden (wie die Empiristen meinen) noch braucht man Erfahrungsbeispiele, um sie evident zu machen (wie bei Aristoteles oder Galilei).

(C 4) Mathematische Beweise.

Alle gültigen Sätze der Naturwissenschaft kann man aus den Naturgesetzen (Axiomen) mathematisch herleiten (oder sollten es zumindest sein).

(C 5) Asymmetrischer Empirismus

Die Falsifikation durch Erfahrungstatsachen ist nicht vorgesehen. Überhaupt spielt die Empirie eine sehr untergeordnete Rolle, da die Naturwissenschaft als ein Zweig der Metaphysik bzw. der Mathematik verstanden wird. Wenn überhaupt, dann können Erfahrungstatsachen die eigene Theorie belegen, fremde Theorien widerlegen, aber niemals die eigene Theorie.

Das cartesische Forschungsprogramm

Wie gesagt hat mit Descartes die Mathematisierung einen Höhepunkt erreicht. Auch propagierte er die mathematische Methode für die Naturwissenschaft. Andererseits, und das ist eigentlich paradox, findet man in den Principia Philosophiae keine einzige mathematische Herleitung. Während Galileis Werke voll sind mit geometrischen Beweisen, deduziert Descartes seine Aussagen ausschließlich begrifflich und rational-logisch, und zwar in einer Weise, wie es auch Aristoteles oder die Scholastiker getan hätten. Dementsprechend sieht auch Floris Cohen eine so große Ähnlichkeit zwischen Descartes‘ Theorien und den antiken Naturphilosophien, dass er ihn als „Athen plus“ bezeichnet. Damit stellt er ihn in die direkte Tradition von Platon, Aristoteles, Epikur und der Stoa. Gemäß Cohen[29] „bleibt […] in ‚Athen plus‘ die überkommene Erkenntnisstruktur gänzlich unangetastet. Inhaltlich wandeln sich die philosophischen Leitgedanken zwar beträchtlich, aber auch in diesem Fall wird für die – neu formulierten – Grundlagen jeglicher Naturerkenntnis wieder vollkommene Gewissheit beansprucht, sollen alle Naturphänomene aus genau diesen und keinen anderen Leitgedanken heraus erklärt werden.“

Wie auch immer. Descartes führt zwar in seiner Naturphilosophie keine mathematischen Beweise aus, so wie es Galilei tat. Aber dennoch identifiziert er die Mathematik mit der physikalischen Grundstruktur der Welt wie kaum ein Denker vor ihm. Damit liegt bei der cartesischen Physik ein Widerspruch vor zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Positiv gewendet kann man das als Forschungsprogramm verstehen, dass er nämlich den Rahmen vorgeben wollte für eine mathematische Naturwissenschaft, die er selbst aber nicht realisieren konnte. Die Arbeiten von Huygens oder Newton kann man bis zu einem gewissen Grad als Umsetzung des cartesischen Programms interpretieren. In diesem Sinne schreibt auch Dijksterhuis[30]:

„Das war eine Illusion, aber eine, die sich als äußerst fruchtbar erwiesen hat; sie befähigte ihn, seinen Zeitgenossen das lichte Ideal eines vernunftgemäßen Systems der Naturerklärung vor Augen zu stellen, das an keine anderen als mathematischen Einsichten appellieren sollte.“

Als Beispiel hierfür kann man die Schwerkraft nennen. Descartes versuchte die Gravitation mithilfe seiner Wirbeltheorie zu erklären. An den Außenrändern der Wirbel würden sich demnach feinere Materieteilchen verdichten und so Druck in Richtung des Zentrums aufbauen. Das mag zwar eine naturphilosophische Begründung sein, aber Descartes war meilenweit entfernt von einer mathematischen Gravitationstheorie, wie sie später Newton vorlegte. Jedenfalls hinterließ Descartes die Aufgabe, eine mathematische Gravitationstheorie zu finden, die die Schwerkraft durch direkt einwirkende Stöße erklärt. Erste Ansätze zu einer solchen Theorie entwickelte Huygens, die allerdings unfruchtbar blieben. Erst Newton gelang es eine durchgängig mathematische Gravitationstheorie zu schaffen, die sich auch bewährte. Allerdings haftete ihr das Manko an, dass bei ihr die Schwerkraft eine fernwirkende Anziehungskraft ist. Damit war Newton selbst unzufrieden und er machte verschiedene Versuche, die Gravitation mittels direkt aus der Nähe wirkender Druck- und Stoßkräfte zu erklären, wozu er einen sog. Gravitationsäther annahm. Auch andere Naturwissenschaftler des frühen 18. Jahrhunderts unternahmen derartige Versuche, bis man sich schließlich an eine fernwirkende Schwerkraft gewöhnt hatte und damit die bisherige mechanistische Forderung über Bord schmiss, Materieteichen könnten nur mittels Stoß und Druck in unmittelbarem Kontakt aufeinander einwirken.

Analytische Geometrie

Descartes gilt als Begründer der analytischen Geometrie. Hierbei werden geometrische Sachverhalte durch Zahlen ausgedrückt. Punkte in der Ebene sind Zahlenpaare, Punkte im Raum sind Zahlentripel, Geraden werden mittels Gleichungssystemen dargestellt. Der Vorteil ist, dass man auf diese Weise geometrische Probleme mittels Arithmetik und Algebra lösen kann. Beispielsweise findet man den Schnittpunkt zweier Geraden durch das Auflösen eines Gleichungssystems. Die analytische Geometrie ist für die Wissenschaftsgeschichte vor allem deswegen wichtig, weil sie den Weg bereitete für die Differenzial- und Integralrechnung.

[1] Descartes Discours, I, S. 9.

[2] Descartes Discours, II, S. 15.

[3] Descartes Discours, V. S. 27.

[4] Descartes, Regulae, IV, S. 21.

[5] Descartes, Regulae, III, S. 12.

[6] Descartes, Regulae, IX, S. 44.

[7] Descartes: Regulae, VIII, S. 39.

[8] Descartes: Meditationen, I, 5, S. 12.

[9] Descartes: Principia, I.14.

[10] Descartes: Principia, I.43.

[11] Descartes Regulae, II, S. 9. In diesem Werk wird noch an vielen weiteren Stellen auf die Mathematik als Vorbild verwiesen: z.B. Regel IV.

[12] Descartes: Meditationen, I, S. 9 ff.

[13] Descartes: Meditationen, S. 220,

[14] Descartes, Principia, I, § 7.

[15] Siehe Koyré: Newton Studies S. 9.

[16] Galilei: Dialog über die Weltsysteme, S. 152 ff..

[17] Descartes: Principia, II.42, S. 145.

[18] Dijksteruis: Die Mechanisierung des Weltbildes, S. 451.

[19] Descartes: Principia, II.9.

[20] Descartes: Principia, II.16.

[21] Descartes: Principia, II.20

[22] Descartes: Principia, II.36.

[23] Descartes: Principia, II.40.

[24] Descartes: Principia, II.46 ff.

[25] Descartes: Principia, II.44.

[26] Simonyi: Kulturgeschichte der Physik, S. 219.

[27] Simonyi: Kulturgeschichte der Physik, S. 220, wobei ich selbst diese Textstelle bei Descartes nicht gefunden habe.

[28] Descartes: Principia, II.26.

[29] Cohen, S. 124.

[30] Dijksterhuis, VI 203, S. 457.

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