Galileis “neue Wissenschaft”

Galileo Galilei (1564-1642) gilt als einer der Begründer der modernen mathematischen Physik.

Er begann zunächst ein Studium der Medizin, wechselte aber dann zur Mathematik. Von 1589 bis 1610 war er Mathematikprofessor zunächst an der Universität in Pisa, dann in Padua. Ab 1609 benutzte Galilei als einer der ersten das gerade erfundene Fernrohr für astronomische Beobachtungen. Diese dokumentierte er in seinem Büchlein Siderius Nuncius, das ihn berühmt machte. Ab 1610 wurde er Hofmathematiker bei den Medici in Florenz. In seinem Buch Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme behauptet Galilei Beweise für das heliozentrische System zu haben und gerät deswegen in Konflikt mit der katholischen Kirche, die ihm 1633 den Prozess macht. Daraufhin wurde er zu einem lebenslangen Hausarrest verurteilt. Sein Werk Discorsi, das auf Italienisch 1638 veröffentlicht wurde, ist eine Zusammenfassung seiner physikalischen Erkenntnisse. Seine wichtigsten Werke sind:

  • Siderius Nuncius, veröffentlicht 1610 in Venedig, dt.: Sternenbote.
  • Il saggiatore, veröffentlicht 1623 in Rom, dt.: Der Prüfer mit der Goldwaage.
  • Dialogo sopra i due massimi sistemi, veröffentlicht 1632 in Florenz. Dt.: Dialog über die beiden hauptsächlichen Welt­systeme; Teubner Verlag Leipzig, 1891; übersetzt von Emil Strauss. Nachfolgend kurz: Dialog über die Weltsysteme.
  • Discorsi e dimostrazioni matematiche, ver­öf­fent­licht 1638 in Leiden. Dt.: Unterredung und mathematische Beweisführungen über zwei neue Wissensgebiete. Felix Meiner Verlag, 2015. Nachfolgend kurz: Discorsi.

Sowohl den Dialog über die Weltsysteme, als auch die Discorsi hat Galilei als ein Gespräch verfasst, das die drei Personen Salviati, Sagredo und Simplicio über physikalische Themen haben. Dabei steht Salviati für Galileis Position, Sagredo ist ein kluger und aufgeschlossener Laie und Simplicio ist ein manchmal etwas dümmlich dargestellter Aristoteliker.

Wie ich oben bereits ausgeführt habe, sind mit Galileo Galilei (1564-1642) viele Mythen verbunden, an denen er größtenteils selbst mitgearbeitet hat. Er war ein Meister darin, sich selbst zu vermarkten, unter anderem durch ein Netz von Beziehungen, das er knüpfte. Vor allem aber auch durch seine Bücher. Walter Hehl schreibt[1]:

„Eine besondere Leistung Galileis liegt im Verfassen von Literatur von hohem sprachlichem, historischem und rhetorischem Wert. Zu seiner Zeit waren seine Briefe, Bücher und Sprüche Träger für sein Marketing gewesen, sie wurden gerne gelesen (auch vom Papst) und waren von großer Überzeugungskraft, allerdings auch für Falsches. Sie lassen sich auch heute gut lesen und sind Zeitdokumente.“

Ferner[2]:

„Galilei wäre unbestritten ein guter Kandidat für den Nobelpreis für Literatur: Er popularisiert die Wissenschaft, er konstruiert Literatur, er beschreibt die zeitgenössische Kultur, mit seinem schriftlichen Werk ist er ein Pionier der italienischen Sprache. Schwieriger ist die Beurteilung der Kandidatur für Physik […]“

Das ist möglicherweise eine sehr einseitige Sicht auf Galilei. Denn ohne Frage hat er auf naturwissenschaftlichem Gebiet einiges geleistet. Und da sind vor allem zwei Dinge zu nennen: Erstens seine langjährige Beschäftigung mit dem Wurf und dem freien Fall, deren korrekten Gesetzmäßigkeiten er erkannte und wohl auch experimentell verifizierte. Zweitens seine astronomischen Beobachtungen durchs Fernrohr.

Galileis schriftstellerische Begabung hatte aber auch eine negative Kehrseite. Mit seinen Schriften war er so erfolgreich, dass viele ihn bis heute für das wissenschaftliche Genie der frühen Neuzeit halten. Durch seine literarische Strahlkraft vermochte er es, Vordenker in den Schatten zu stellen, andere zeitgenössische Wissenschaftler fast vollkommen ins kollektive Vergessen zu drängen, und die Bedeutung anderer Wissenschaftler herunterzuspielen. Man denke nur an Thomas Harriot oder Simon Marius. Oder auch an Johannes Kepler oder Tycho Brahe. Ja, man erinnert sich an Kepler, aber kaum jemand weiß, dass seine Leistungen, um das heliozentrische Weltbild durchzusetzen, um vieles größer sind als die von Galilei. Es ist ziemlich klar: Im Dialog über die Weltsysteme äußerte er manche richtige Vermutung, aber sein Hauptargument dafür, dass die Erde rotiert, ist falsch. Hätte es nur dieses Werk gegeben und Keplers Arbeiten nicht, dann würden wir heute vielleicht immer noch mit einem geozentrischen Modell den Lauf der Planeten vorhersagen.

Andererseits ist Galilei auch wissenschaftshistorisch bedeutsam, gerade weil sein literarisches Werk so gut geschrieben ist. Er war sicher nicht einzigartig und der geniale Gründungsvater der modernen Physik, er lag vielmehr völlig im damaligen Trend der Zeit und drückte eloquent das aus, was damals geistig und kulturell „in der Luft“ lag. Insofern war er wohl ein typischer Repräsentant seiner Epoche. Wie ich bereits oben gesagt habe, spiegeln seine Schriften gut die neue mathematisierte Naturauffassung wider. Außerdem findet man in seinen Schriften die erste Formulierung eines Wissenschaftsmodells, das er selbst „neue“ Wissenschaft nennt. Wie ich in diesem Kapitel zeigen werde, handelt es sich dabei um eine Variante des aristotelischen Wissenschaftsmodells, bei dem im Prinzip fast alles unverändert geblieben ist, nur dass das logisch Begriffliche durch die Mathematik ersetzt wird. Ich möchte es „Galileis Wissenschaftsmodell“ nennen, das man später auch bei Huygens und Newton finden wird.

Ist Galilei der Begründer der modernen Experimentalphysik?

Im Wikipedia-Eintrag (Stand Feb. 2023) steht über Galilei unter anderem:

„Er entwickelte die Methode, die Natur durch die Kombination von Experimenten, Messungen und mathematischen Analysen zu erforschen, und wurde damit einer der wichtigsten Begründer der neuzeitlichen exakten Naturwissenschaften.“

Und der Physiker Josef Honerkamp schreibt in seinem Weblog[3]:

„Heute sehen wir, wie viele Gebiete der empirischen Wissenschaften immer stärker mathematisiert werden. Galileo Galilei war es, der die ersten Schritte dazu in der Naturforschung machte. Er hat als erster ein Ergebnis eines physikalischen Experimentes in der Sprache der Mathematik beschrieben. Dabei erkannte er durchaus die Tragweite dieser Verknüpfung von Mathematik und Experiment, er sah sofort, welch eine Revolution eine Mathematisierung für das damalige Verständnis von Wissenschaft darstellt.“

Dieser Ruhm Galileis als vermeintlicher Experimentalphysiker und großer Erfinder der experimentell-mathematischen Methode beruht vor allem auf zwei Experimenten. Erstens seinen angeblichen Fallexperimenten am Turm von Pisa, von denen heute unstrittig ist, dass sie niemals stattfanden. Zweitens den Experimenten an der schiefen Ebene. Auch hier vermutete der Wissenschaftshistoriker Koyré, dass Galilei sie nie tatsächlich machte. Heute jedoch weiß man aus seinen spät veröffentlichten Manuskripten, dass er wirklich über viele Jahre hinweg Experimente mit Rollscheiben auf der Schiefen Ebene ausführte. Sein Ziel dabei war es, die Fallgesetze empirisch zu überprüfen, die – modern ausgedrückt – so lauten:

  1. Lässt man einen schweren Gegenstand aus der Ruhe heraus fallen, dann entspricht die Fallhöhe dem Quadrat der Fallzeit, also \(s \cong t^2 \)
    .
  2. Lässt man einen schweren Gegenstand fallen, dann ist der nach einer Zeit t erreichte Weg genauso groß wie bei einer Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit über dieselbe Zeit, wobei diese konstante Geschwindigkeit gleich der Hälfte der Endgeschwindigkeit ist, die am Ende der beschleunigten Bewegung erreicht wird:

\(s(t) = \frac{1}{2} v(t)\cdot t \)

Vergleichen wir zunächst Galileis Erkenntnisse mit der aristotelischen Naturphilosophie. Galilei beschreibt, wie der freie Fall quantitativ geschieht. Dabei setzt er messbare Größen, d.h. räumliche Strecken, vergangene Zeiten und erreichte Geschwindigkeiten, zueinander in zahlenmäßige Verhältnisse. Aristoteles hingegen interessierte sich überhaupt nicht für die genauen mathematischen Zusammenhänge. Seine Frage war vielmehr: Warum überhaupt fallen schwere Dinge wie Steine, Eisenkugeln etc. zur Erde, während anderes, Luft und Feuer z.B. nach oben steigt? Aristoteles Antwort war bekanntlich: Schweres fällt nach unten, weil in ihnen ein Trieb wirksam ist, zu seinem „natürlichen“ Ort zu streben, und der ist „unten“. Eine Antwort, die möglicherweise richtig ist, aber auf jeden Fall unnütz. Andererseits liegt es auf der Hand, dass man ein quantitatives Wissen über beschleunigte Bewegungen technisch nutzbar machen kann.

Wenn nun ein schwerer Gegenstand, wie Aristoteles meinte, einen inneren Trieb hat, nach unten als seinen natürlichen Ort zu gelangen, dann müsste dieser Trieb überall gleich sein. Ferner meinte Aristoteles: Eine konstant einwirkende Kraft bewirkt eine konstante Geschwindigkeit. Beispielsweise bewegt sich ein Wagen genauso schnell, wie ein Pferd zieht. Daher war für Aristoteles klar, dass die Geschwindigkeit, mit der ein schwerer Gegenstand fällt, sofort mit derjenigen Geschwindigkeit startet, die er den ganzen Fall hindurch konstant beibehält. Der freie Fall wäre somit eine nicht-beschleunigte Bewegung mit durchgehend gleicher Fallgeschwindigkeit. Heutzutage wissen wir, dass der freie Fall eine beschleunigte Bewegung ist, also aus dem Ruhezustand nach und nach schneller wird. Daher kommt uns Aristoteles‘ Behauptung direkt absurd vor.

Aber tun wir einmal so, als hätten wir in der Schule nicht aufgepasst, und machen einen Versuch. Wir nehmen, sagen wir, einen Stein, halten ihn auf Schulterhöhe und lassen ihn los. Der Augenschein ist tatsächlich so, als würde der Stein sofort eine Geschwindigkeit annehmen, die er bis zum Erreichen des Bodens konstant beibehält. Die Geschwindigkeitszunahme ist für uns nicht wahrnehmbar. Das Experiment scheint Aristoteles zu bestätigen. Erste Zweifel an Aristoteles‘ Aussage kommen einem erst, wenn man z.B. einen Stein aus verschiedenen Höhen fallen lässt, und auf die Lautstärke des Knalls achtet, den er beim Aufprall auf dem Boden erzeugt. Jedenfalls scheint Aristoteles dem ersten Augenschein nach mit der Empirie übereinzustimmen. Ohne weitere technische Hilfsmittel ist es kaum möglich zu beobachten, wie der freie Fall tatsächlich abläuft. Da aber, wie gesagt, Aristoteles das Mathematische sowieso als für die Naturerkenntnis unwesentlich hielt, interessierte er sich auch nicht für das genaue quantitative Wie des freien Falls.

Gerade das wollte aber Galilei herausfinden. Heutzutage würde man dazu eine Kamera verwenden und die Aufnahmen in „Slow Motion“ analysieren. Das konnte Galilei natürlich noch nicht. Galilei musste sich also einen Trick ausdenken, um die Fallbewegung zu „verlangsamen“: Er ließ runde Scheiben über schiefe Ebenen rollen. Je mehr sich die schiefe Ebene der Vertikalen annähert, umso mehr wird die Bewegung zum freien Fall; und je horizontaler die schiefe Ebene wird, umso langsamer und umso beobachtbarer ist der Bewegungsablauf. So konnte Galilei experimentell zeigen, dass es sich beim Rollen auf einer schiefen Ebene um eine beschleunigte Bewegung handelt. Das erkannte man jetzt sozusagen durch bloßes Hinsehen, was vorher aufgrund der Schnelligkeit der Abläufe nicht möglich war. Da der freie Fall nur ein Sonderfall der schiefen Ebene ist, kann man schließen, dass auch der freie Fall eine beschleunigte Bewegung ist.

Auch um die genauen mathematischen Zusammenhänge zu erkennen ist die schiefe Ebene sehr geeignet. Bei verschiedenen Neigungswinkeln verändert sich die Strecke, auf der die Scheibe rollt. Nun muss man bedenken, dass es zur Zeit Galileis noch keine physikalischen Messgeräte gab, keine präzisen Stoppuhren, keine Apparate, mit denen man Geschwindigkeiten oder Beschleunigungen messen konnte. Das Einzige, was damals ohne Weiteres messbar war, waren Strecken. Dazu brauchte man nur einen Zollstock.

Für seine Experimente musste Galilei aber auch Zeiten messen. Dazu erfand Galilei eine Art Wasseruhr, bei der die Zeit als Menge des abgeflossenen Wassers gemessen wir. Wie ich bereits erörtert habe, kann jede Messung als eine indirekte Wahrnehmung verstanden werden, eine Erfahrung, die nur durch ein Hilfsmittel ermöglicht wird. Und diese mittelbare Wahrnehmung setzt voraus, dass man sie theoretisch richtig versteht. Eine solche Empirie lehnten aber die Aristoteliker ab, für die nur die direkte Wahrnehmung, der unmittelbare Augenschein, als zuverlässig galt.

Das Meiste, was wir von Galileis Experimenten an der schiefen Ebene und seinen mühsamen Verbesserungen des Versuchsaufbaus wissen, wissen wir aus den Manuskripten, die Galilei eigentlich nicht veröffentlichen wollte. In seinen veröffentlichten Werken hingegen erwähnt Galilei diese Experimente, sowie den Versuchsaufbau nur beiläufig auf zwei Seiten der Discorsi[4]. Ein paar Seiten davor beweist Galilei die Fallgesetze rein rational-geometrisch, ohne irgendeine Bezugnahme zur Empirie. Und Salviati hätte es auch dabei belassen, wenn nicht der aristotelische Simplicio etwas begriffsstutzig wäre und die Dinge nur anhand konkreter Erfahrungstatsachen verstehen würde:

„Simpl.: […] Dass aber die Natur sich bei der Bewegung ihrer fallenden schweren Körper eben dieser Beschleunigung bedient, bezweifle ich vorerst immer noch. Damit ich und andere, die mir ähnlich sind, das einsehen, würde es mir an dieser Stelle passend erscheinen, dass Sie einige Erfahrungen beisteuern, von denen es, wie Sie sagten, viele gibt, welche […] mit den bewiesenen Schlussfolgerungen übereinstimmen.“

Es mag sein, dass Galilei faktisch durch langjähriges, sorgfältiges Experimentieren die Fallgesetze entdeckt hat. Aber in seinem veröffentlichten Werk stellt er es vollkommen anders dar, nämlich so, dass er die Fallgesetze durch geometrische Einsichten gefunden habe. Und dass diese Gesetze alleine deswegen gelten, weil sie geometrisch beweisbar sind. Die Experimente sind nur insofern hilfreich, als sie die Gesetze anschaulich machen für jene, die der geometrischen Beweisführung nicht so gut folgen können. Auch in Galileis anderem Hauptwerk, dem Dialog über die Weltsysteme, verteidigt der aristotelische Simplicio ständig den offensichtlichen, empirischen Augenschein gegen Galileis geometrische Konstruktionen.

Der hauptsächliche Unterschied zwischen der aristotelisch-scholastischen Naturphilosophie und Galileis neuer Wissenschaft kann also nicht darin bestehen, dass Galilei der Empirie und dem Experiment einen höheren Stellenwert gegeben hat. Paradoxerweise bringen viele Textstellen in Galileis Werken eher zum Ausdruck, dass es Aristoteles strenger mit der Empirie nahm als Galilei.

In Galileis Werken findet man, wie gesagt, vor allem geometrische Beweise, Gedankenexperimente und theoretische Überlegungen über die Natur, die Galilei auch ohne Empirie für direkt einsichtig hält. Experimente werden in Galileis Werk äußerst selten erwähnt. Das eigentlich Neue an Galileis „neuer“ Wissenschaft ist somit nicht das Experimentieren, sondern die Geometrie[5]. Während Aristoteles jede naturphilosophische Aussage mithilfe einer logisch-begrifflichen Argumentation begründete, verwendet Galilei geometrische Beweise. Ansonsten hat Galileis Wissenschaft einen axiomatisch-deduktiver Aufbau, und zwar genauso, wie es dem Wissenschaftsmodell entspricht, das Aristoteles in der Zweiten Analytik entworfen hat. Der einzige Unterschied ist, nur, dass Galilei alle naturwissenschaftlichen Aussagen mathematisch formuliert und geometrisch beweist, während die aristotelische Naturphilosophie durchgängig alle Aussagen nicht-mathematisch formuliert und ausschließlich begrifflich-logischen Deduktionen verwendet, – eine Weise, die nach Galilei in ein finsteres Labyrinth führt.

Dass das Neue bei Galilei nicht das Experimentieren sein kann, sieht man an mannigfaltigen Textstellen. Galilei beruft sich im Fortgang seiner Argumentationen so gut wie nie auf empirische Daten, vielmehr versucht er stets, jede Behauptung geometrisch zu beweisen. Ferner ist es in seinen Dialogen immer ausgerechnet der aristotelische Simplicio, der sich auf Erfahrungstatsachen berufen will bzw. eine experimentelle Bestätigung von Salviatis Aussagen einfordert. Das stellt Galilei wiederum so dar, dass Simplicio die Empirie nur deswegen braucht, weil es ihm an vernünftiger Einsicht fehlt.

Paradoxerweise gibt es mehrere Textstellen, in denen sich Galilei sogar ausdrücklich gegen die Durchführung von Experimenten zu wenden scheint. Im Dialog über die Weltsysteme beispielsweise diskutieren Salviati und aristotelische Simplicio über die Flugbahn eines Steines, der oben vom Mast eines in Fahrt befindlichen Schiffs losgelassen wird[6]. Man könnte ja zunächst meinen, dass dieser Stein, sobald er losgelassen wird, in einem direkten Weg nach unten fällt, das Schiff aber weiterfährt, so dass der Stein auf dem Deck unten ein paar Meter entfernt vom Mast aufschlägt. Aus der Sicht der heutigen Physik wird hierbei nicht berücksichtigt, dass der Stein aufgrund der Trägheit auch noch eine horizontale Bewegungskomponente hat, so dass der Stein genau den Mast entlang fallen und unten direkt neben dem Mast aufschlagen müsste. Salviati (bzw. Galilei) begründet dies mit rein rationalen Argumenten[7]: „[…] man solle beobachten, wenn nicht mit leiblichen, so doch mit geistigen Augen, was eintreten würde […]“.

Der aristotelische Simplicio hat Zweifel an Salviatis Argumentation und würde gerne dieses Fallexperiment tatsächlich ausführen. Daraufhin antwortet Salviati[8]:

„Ich bin ohne Versuch gewiss, dass das Ergebnis so ausfällt, wie ich Euch sage, denn es muss so ausfallen. Ja noch mehr, ich behaupte, Ihr selbst wisst ebenfalls, dass der Ausfall kein anderer sein kann, wenn Ihr euch auch stellt […], als wüsstet Ihr es nicht.“

Galilei meint also offenbar, dass man auch ohne Experimente, alleine durch Nachdenken, zu richtigen physikalischen Erkenntnissen gelangen könnte.

„Neue“ geometrische Beweise versus „alte“ begrifflich-logische Beweise

In den Discorsi unterhalten sich Salviati, Sagredo und Simplicio über naturphilosophische Themen. Ganz am Anfang fragt Salviati seine Gesprächspartner, ob er ihnen eine Lehre vortragen soll, die er von einem befreundeten Akademiker gehört habe. Nachdem Sagredo darum gebeten hat, sagt Salviati[9]:

„Salv.: Gerne tue ich Ihnen den Gefallen, soweit meine Erinnerung an die Lehre unseres Akademikers reicht, der über diese Dinge schon viel nachgedacht und alles wie immer geometrisch bewiesen hat, und zwar so, dass man mit gutem Grund von einer gänzlich neuen Wissenschaft sprechen kann.“

An dieser Textstelle geht es nicht ums Experimentieren oder sonst irgendeinen neuen Umgang mit Erfahrungstatsachen. Das Neue an Galileis „neuer Wissenschaft“ ist ausschließlich, dass jetzt geometrisch bewiesen wird.  Und es ist offensichtlich, dass sie sich gegen die „alte“, durch Aristoteles geprägte Naturphilosophie richtet. Was das für Galilei genau bedeutet, sieht man beispielsweise im Dialog über die Weltsysteme, an dem wieder die aus den Discorsi bekannten Personen, Salviati, Sagredo und Simplicio, beteiligt sind. Es geht um die Aussage, dass der Raum dreidimensional ist. Man könnte ja auf die Empirie verweisen, dass es einfach eine Erfahrungstatsache ist, dass wir die Dinge im Raum dreidimensional wahrnehmen. Aristoteles will die Aussage aber logisch-rational beweisen. Und dazu unternimmt er verschiedene Beweisversuche. Beispielsweise: Der Raum hat drei Dimensionen. Begründung:  Weil die Zahl Drei eine vollkommene Zahl ist.

Auch Galilei hält es für notwendig, die Dreidimensionalität des Raumes zu beweisen. Sein „geometrisches“ Argument läuft darauf hinaus, dass man zu einer gegebenen Linie immer nur genau zwei weitere Linien finden kann, so dass alle drei zueinander im rechten Winkel stehen.  Nach heutigem Maßstab ist das kein Beweis, sondern nur eine Umformulierung der Aussage, die zu beweisen ist. Der Unterschied zu Aristoteles ist also nicht, dass Galilei sich auf die Empirie beruft und Aristoteles nicht. Der Unterschied ist vielmehr, dass Galilei glaubt, die Aussage geometrisch beweisen zu können, was Aristoteles logisch-begrifflich versuchte. Der Einzige übrigens, der „Bauchschmerzen“ mit Salviatis geometrischen „Beweis“ hat, ist der aristotelische Simplicio[10]:

„Simpl: Ich will nicht sagen, dass dieser Euer Beweis der Strenge ermangele; wohl aber kann ich mit Aristoteles sagen, dass man in den Naturwissenschaften nicht immer Bewiese von mathematischer Strenge zu suchen hat.“

Berühmt ist die Textstelle aus Il Saggiatore[11]:

„Die Philosophie steht geschrieben in dem großen Buch, das uns fortwährend offen vor Augen liegt, dem Universum, aber man kann sie nicht begreifen, wenn man nicht die Sprache verstehen und die Buchstaben kennen lernt, worin es geschrieben ist. Es ist geschrieben in mathematischer Sprache, und die Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren; ohne diese Mittel ist es dem Menschen unmöglich, ein Wort davon zu verstehen; es ist nur ein sinnloses Herumirren in einem finsteren Labyrinth.“

Galilei sagt damit, dass man nur mithilfe der Geometrie zu einer zutreffenden Naturerkenntnis kommen kann. So schreibt er auch in den Discorsi[12], dass „alle mechanischen Ursachen ihr Grundlage in der Geometrie haben“. Verzichtet man hingegen auf die Geometrie, wie es Aristoteles tut, dann gerät man bei der Erforschung der Natur in ein „finsteres Labyrinth“.

Galileis Wissenschaftsmodell

Das Innovative an Galileis neuer Wissenschaft ist also nicht das Experimentieren, sondern die neue Stellung, die der Geometrie in der Naturerkenntnis zugeschrieben wird. Meine These ist somit, dass Galileis Wissenschaftsmodell weitgehend mit dem aristotelischen Wissenschaftsmodell übereinstimmt, wie er es in der Zweiten Analytik dargestellt hat. Der Unterschied ist nur, dass die begrifflich-logisch Deduktion durch den geometrischen Beweis ersetzt wird. Dem wiederum liegt eine neue geometrisch-quantitative Naturauffassung zugrunde. Galilei hält das immanente Wesen der Natur für mathematisch, was Aristoteles strikt ablehnte. Hier eine zusammenfassende Darstellung:

(B 1)  Das Ziel der Naturwissenschaft ist es, zu unumstößlichen, notwendigen Wahrheiten zu gelangen.

(B 2) Die Naturwissenschaft hat Definitionen und Axiome (die auch Naturgesetze heißen).

a) Die Definitionen und Axiome treffen das mathematische Wesen der Natur und sind deswegen auch mathematisch formuliert;

b) Die Definitionen und Axiome sind Sätze, die für unserer Vernunft einsichtig und evident sind;

c) Aufgrund von b) sind sie notwendig wahr sind. Die Evidenz gewährleistet den Realitätsbezug.

(B 3) Induktion:

Induktion ist die Methode, um zu den Definitionen und Axiomen zu gelangen bzw. sie zu erläutern; sie kann a) mittels konkret erfahrbarer Beispiele oder Experimente geschehen, oder b) mittels eines Gedankenexperiments

a) Man geht von ein paar, konkret sinnlich erfahrbaren Beispielen oder Experimenten aus, um an ihnen mittels Vernunfteinsicht das allgemeine Wesentliche zu erkennen.

b) Man konstruiert idealtypische Sachverhalte, um an ihnen mittels Vernunfteinsicht das allgemeine Wesentliche zu erkennen.

Dieser Punkt hängt eng mit (B 2) b) zusammen.

(B 4) Mathematische Beweise:

Alle gültigen Sätze der Naturwissenschaft kann man aus den Definitionen und Axiomen mathematisch herleiten.

(B 5) Asymmetrischer Empirismus:

Eine Falsifikation der so gewonnenen Theorie durch Erfahrungstatsachen ist nicht vorgesehen. Sofern die Axiome durch vernünftige Einsicht als wahr erkannt sind und alles Weitere mathematisch korrekt hergeleitet wurde, ist die Theorie absolut wahr und kann durch weitere Erfahrungstatsachen nicht widerlegt werden.

Allerdings findet man eine gewisse Aufwertung empirischen Wissens, die ich asymmetrischen Empirismus nenne:

a)  Erfahrungswissen und Experimente, die mit der eigenen Theorie im Einklang stehen, werden als Beweis für die Richtigkeit der eigenen Theorie angesehen, insbesondere wenn es sich um korrekte Prognosen, praktische Anwendungen und technische Verfahren handelt.

b) Erfahrungswissen und Experimente, die mit einer gegnerischen Theorie im Widerspruch stehen, werden als Beweis für die Falschheit dieser Theorie angesehen.

c) Erfahrungswissen und Experimente, die mit der einer eigenen Theorie im Widerspruch stehen, werden nicht als Beweis für die Falschheit der eigenen Theorie genommen. Derartig widersprechende Erfahrungen werden entweder ganz ignoriert oder als bedeutungslos, Messfehler, Sinnestäuschung etc. abgetan.

Galileis neue Wissenschaft ist axiomatisch

Bezogen auf Galileis frühe Arbeiten schreibt Klaus Fischer[13]:

„Man würde aber den Charakter der frühen Galileischen Wissenschaft verkennen. […] Ex­pe­ri­men­tel­le Tests waren nach Galileis methodischem Verständnis weder zur Stützung der Theorie not­wen­dig noch zu ihrer Verwerfung ausreichend. Seine Vorgehensweise war axiomatisch orientiert. Der Physiker hatte in seiner Beweisführung ebenso wie der Mathematiker davon auszugehen, was keines Beweises bedurfte, was also eindeutig, klar und unmittelbar einsehbar war. Ist die Bedingung erfüllt, dann sind auch alle Folgerungen aus den Axiomen, sofern korrekt abgeleitet, wahr. Taucht dennoch ein Widerspruch zur Erfahrung auf, dann ist das ein Zeichen dafür, dass bei der Bestimmung dessen, was klar, eindeutig und evident ist, noch eine Lücke geblieben war […]. Empirische Argumente sind allenfalls nötig, um auch diejenigen zu überzeugen, die die Axiome noch nicht begriffen haben, oder um gegnerische Hypothesen aus der faktischen Unmöglichkeit der aus ihnen ableitbaren Konsequenzen zu kritisieren […]. An keiner Stel­le seiner frühen Schriften erachtet Galilei den Hinweis auf Tatsachen […] schon als hin­rei­chen­des Argument für eine Verwerfung dieser Hypothesen.“

Fischer schreibt das über Galileis frühe, unbekannte Arbeiten. Nun könnte man nun vermuten, dass Galilei zu diesem frühen Zeitpunkt seine „neue“ Wissenschaft noch nicht ersonnen hatte. In seinem Spätwerk, den Discorsi, spricht er ausdrücklich von seiner „neuen“ Wissenschaft, die er mustergültig im dritten und vierten Kapitel der Discorsi darstellt.  Hier beginnt Galilei mit einer Definition der gleichförmigen Bewegung, gefolgt von vier Axiomen. Daraus leitet er sechs Theoreme ab, und zwar rein geometrisch. Danach geht er zu der sogenannten natürlich beschleunigten Bewegung über, die er definiert als „diejenige Bewegung, bei der sich, ausgehend vom Ruhezustand, in gleichen Zeiten gleiche Zuwächse an Schnelligkeit zueinander addieren.“[14] Kurz vorher schreibt Galilei, dass er diese Definition nach „langwierigen, geistigen Anstrengungen” gefunden habe[15]. Mit keinem Wort erwähnt er irgendwelche Experimente. Überhaupt machen das dritte und vierte Kapitel den Eindruck eines geometrischen Lehrbuchs ganz im Stile Euklids.

Im dritten Kapitel der Discorsi beschreibt Galilei zwar detailliert den Versuchsaufbau an der schiefen Ebene. Das tut er aber nur, weil der begriffsstutzige, aristotelische Simplicio den geometrischen Beweis der Fallgesetze nicht versteht. Für den eigentlichen Fortgang von Galileis Theorie ist ihre Erwähnung ein bedeutungsloser Einschub.

Nach der Versuchsbeschreibung im dritten Kapitel der Discorsi formuliert er wieder ein „Axiom“, nämlich dass bei schiefen Ebenen der herabrollende Körper am Ende immer dieselbe Geschwindigkeit hat, unabhängig vom Neigungswinkel, wenn nur die Höhe des Startpunktes gleichbleibt. In der heutigen Physik würde man sagen, dass die Höhenenergie gleich der kinetischen Energie ist, so dass dieses Axiom eine Vorwegnahme des Energieerhaltungssatzes ist.

Das Wesen der Natur ist geometrisch-quantitativ

Galilei glaubt geometrisch beweisen zu können, dass der Raum dreidimensional sein muss. Dieser Beweis erscheint uns für sich genommen schon seltsam. Ist die Dreidimensionalität des Raumes nicht einfach eine Erfahrungstatsache? Wozu das noch geometrisch beweisen? Noch erstaunlicher aber ist, wenn man folgendes bedenkt. Galileis Beweis ist geometrisch, d.h. er bezieht sich genau genommen auf den idealen, geometrischen Raum und eigentlich nicht auf den physischen Raum. Dass Galilei diesen Unterschied nicht thematisiert, zeigt, wie sehr er das Geometrisch-Quantitative mit der Wirklichkeit gleichsetzt. Offenbar liegt dem die Auffassung zugrunde, dass alles was man geometrisch beweisen kann, deswegen auch direkt für die empirische Realität gelten muss. Diese Identifikation von idealer Geometrie und materieller Realität ist meiner Meinung nach ein Indiz dafür, dass es Galilei nicht nur um eine äußerliche mathematische Beschreibung der beobachtbaren Naturphänomene geht, sondern dass er, über die Empirie hinausgehend, die Natur als ihrem innersten Wesenskern nach und an sich für mathematisch hält. Diese Form einer Mathematisierung der Natur kann man an vielen anderen Stellen seines Werkes sehen.

Ein gutes Beispiel dafür ist auch, wie sich Galilei in den Discorsi den Zusammenhalt der Teile eines Festkörpers erklärt. Sowohl in der Antike als auch im Mittelalter bestand weitestgehende Übereinstimmung darin, dass die sinnlich wahrnehmbare Welt endlich ist. Wenn überhaupt Unendliches in dieser Welt vorkommt, dann als potenziell Unendliches in dem Sinne, dass zu dem bereits Erreichten immer noch ein weiteres gefunden werden kann. Das aktual Unendliche hingegen kommt nicht in der Natur vor, bzw. ist in der scholastischen Philosophie ein Merkmal Gottes. Immerhin wurde Girodano Bruno (1548-1600) wegen Ketzerei verurteilt und hingerichtet, weil er behauptete, dass der Kosmos aktual unendlich sei.

Hat man nun beispielsweise einen Zylinder aus Holz oder einem anderen festen Material aufgehängt, und befestigt daran unten ein Gewicht, dann wird dieses Gewicht durch den festen Zylinder gehalten, ohne dass er auseinanderbricht, – sofern natürlich das Gewicht nicht zu schwer ist. Woher kommt dieser starke innere Zusammenhalt von festen Stoffen?

Galileis Antwort in den Discorsi ist[16]: Ein Stück eines festen Stoffes besteht – trotz seiner endlichen Länge – aus unendlich vielen, unendlich kleinen und unteilbaren Atomen; und zwischen diesen unendlich vielen Atomen gibt es unendlich viele Vakua. Durch diese Vakua meint Galilei den inneren Zusammenhalt fester Stoffe erklären zu können. Und zwar meint Galilei hier nicht, dass ein Materiestück aus potenziell unendlich vielen Atomen besteht, sondern aus aktual unendlich vielen Atomen. Ferner glaubt er, diese Theorie mit mathematischer Gewissheit beweisen zu können. Letztlich laufen seine Beweise darauf hinaus zu zeigen, wie es geometrisch denkbar ist, dass sich auf einer endlichen, geometrisch-idealen Strecke unendlich viele geometrisch-ideale Punkte befinden können. Dies ist nun tatsächlich eine mathematische Wahrheit. Bemerkenswert ist allerdings, dass Galilei glaubt, ohne Weiteres einen solchen geometrischen Beweis als physikalischen Beweis nehmen zu können. Die geometrische Erkenntnis ist für ihn unversehens auch eine physikalische Erkenntnis. Und das nicht etwa mittels eines Analogieschlusses, sondern offenbar identifiziert er die idealen geometrischen Sachverhalte mit der physikalischen Wirklichkeit. Atome verhalten sich nicht ähnlich wie geometrisch-ideale Punkte, sondern Atome sind Punkte. Und aus solchen atomaren Punkten besteht jeder materielle Stoff. So sieht man, wie Galilei die Wirklichkeit mathematisiert hat: Materielle Dinge sind ihrem Wesen nach mathematisch und die mathematische Struktur ist den Dingen immanent.

Ein weiteres Beispiel für die Mathematisierung der Natur bei Galilei findet man im Dialog über die Weltsysteme. An einer Stelle will er beweisen, dass eine materielle Kugel eine materielle Ebene an exakt einem Punkt berührt. Um dies zu zeigen, führt er einen geometrischen Beweis aus.  Diesbezüglich lässt er den aristotelischen Simplicio sagen[17]: „Dieser Beweis trifft nur auf abstrakte, nicht auf materielle Kugeln zu. […] Materielle Kugeln sind mancherlei Einflüssen unterworfen, denen immaterielle nicht unterliegen.“ Und Salviati antwortet: „O, alles das gebe ich Euch gerne zu, aber es ist völlig belanglos [meine Hervorhebung].“ Galilei identifiziert somit die unvollkommene empirische Realität mit der perfekten geometrischen Idealisierung, bzw. der Unterschied wird als „belanglos“ oder für unwesentlich bezeichnet. Das ist eine Sichtweise, die in der Antike, weder bei Aristoteles noch bei den Eleaten oder Platon, denkbar gewesen wäre.

Außerdem sind die Gedankenexperimente, die Galilei hin und wieder angibt, meistens Beispiele für seine mathematische Naturauffassung. Sehen wir uns ein Beispiel an, das mit schiefen Ebenen zu tun hat. Galilei hatte im Dialog über die Weltsysteme zunächst den mathematischen Zusammenhang zwischen Rollstrecke und Rolldauer herausgefunden. Nun wollte er noch einen Schritt weitergehen. Es ist ja denkbar, dass das Rollen auf der schiefen Ebene stufenweise die Geschwindigkeit erhöht, modern ausgedrückt: in Geschwindigkeitsquanten. Galilei war aber der Überzeugung, dass die Geschwindigkeit völlig kontinuierlich und ohne Sprünge anwächst. Das wiederum müsste bedeuten, dass ein aus der Ruhe beschleunigter Körper mit „unendlicher Langsamkeit“ startet (wie sich Galilei ausdrückt) und dann alle infinitesimal kleinen Stufen der Langsamkeit durchläuft. Ein heutiger Physiker würde es so formulieren: Bei einer beschleunigten Bewegung ist die Geschwindigkeit v(t) eine Funktion in der Zeit, die stetig differenzierbar ist. Und in Abhängigkeit davon, wie nah t beim Startzeitpunkt liegt, wird v(t) beliebig klein.

Bemerkenswert ist, wie Galilei dies zu zeigen versucht. Dazu verwendet er nämlich folgendes Gedankenexperiment. Und zwar nimmt er eine schiefe Ebene mit „ausgezeichneter Glätte und Härte“ an, über die eine „vollkommen runde Kugel von härtestem Stoff“ hinabgerollt werden soll[18]. Es ist klar, dass Galilei hier ideale Bedingungen annimmt, die in ihrer reinen Form in der Wirklichkeit niemals zu finden sind. Nun variiert Galilei gedanklich den Neigungswinkel der schiefen Ebene.

Auf diese Weise kann man, jedenfalls theoretisch, den Rollweg immer länger werden lassen. „Daher lassen sich“, wie Galilei schreibt[19], „wie nicht im Mindesten zu bezweifeln ist, Ebenen von so geringer Neigung gegen den Horizont angeben, dass der bewegte Körper […] erst nach einer vorgegebenen beliebig großen Zeit den Weg […] zurücklegen würde […].“ Galilei behauptet also, dass man die Neigung so sehr abflachen könnte, dass die Kugel Stunden oder sogar Jahre für das Herabrollen benötigt, „so dass schließlich die Langsamkeit unendlich groß wird“. So versucht Galilei einsichtig zu machen, dass die Geschwindigkeiten bei beschleunigten Bewegungen am Anfang infinitesimal klein sind, nicht sprunghaft, sondern kontinuierlich anwachsen.

Nun erhält man faktisch niemals derartig ideale Bedingungen in der Realität, so dass man dieses Experiment tatsächlich nicht durchführen kann. Dieses Argument ist also nur stichhaltig, wenn man das, was ideal-geometrisch gilt, ohne Weiteres auf die physikalische Realität überträgt, somit ideale Geometrie und materielle Wirklichkeit miteinander identifiziert (bis auf eine zu vernachlässigende Differenz).

Noch ein anderes interessantes Gedankenexperiment findet man im Dialog über die Weltsysteme[20]. Galilei verwendet die Bezeichnung noch nicht, aber er beabsichtigt hier, zu einer Vorform des Trägheitsprinzips hinzuleiten. Es geht nicht darum, dieses Prinzip faktisch experimentell zu belegen. Galilei macht es vielmehr evident anhand von geometrischen Überlegungen. Man stelle sich eine unendliche, vollkommen horizontale Ebene vor, auf der man eine vollkommene Kugel rollen lässt ohne irgendwelche Störfaktoren. Das hat den Charakter kristallklarerer, idealtypischer Geometrie, – in der empirischen Realität nicht auffindbar. Und dennoch behauptet Galilei Naturwissenschaft zu betreiben.  Das kann aber nur sinnvoll sein unter der (metaphysischen) Annahme, dass die Natur ihrem innersten Wesen nach mathematisch ist.

Galileis neue Wissenschaft ist apodiktisch

Es ist ein wichtiges Merkmal des modernen Wissenschaftsverständnisses, dass Wissenschaft immer nur hypothetisch ist. Diese Auffassung war antiken Philosophen fremd, für Aristoteles ist echte Wissenschaft apodiktisch, d.h. notwendig wahr. Sie kann unmöglich nicht wahr sein. Und so dachte auch Galilei. Seine mathematische Naturwissenschaft war nicht hypothetisch, sondern er hielt sie für notwendig und unumstößlich wahr, so wie es die Geometrie ist.

Dass das so ist, erkennt man zunächst an dem Konflikt, den Galilei mit der Kirche hatte. Die Kirche wäre zufrieden gewesen, wenn Galilei das kopernikanische Modell als hypothetisch bezeichnet hätte. Das aber lehnte er ab, offenbar weil er der Meinung war, dass er hieb- und stichfest wissen würde, dass sich die Erde mit gleichförmiger Geschwindigkeit in perfekten Kreisbahnen um die Sonne dreht. Er glaubte dafür einen sicheren Beweis zu haben. Er meinte nämlich, dass das Phänomen von Ebbe und Flut ausschließlich und nur so erklärbar ist. Noch bevor er dieses Argument im Dialog über die Weltsysteme vorbringt, formuliert er die Anforderungen, die er an einen derartigen Beweis stellt[21]:

„Sollen jene Erscheinungen [von Ebbe und Flut] Folge der natürlichen Erdbewegungen sein, so dürfen sie nicht nur nicht zu einem Widerspruch […] führen, sie müssen auch […] mit Notwendigkeit daraus folgen, derart dass unmöglich der Vorgang ein anderer sein kann; das nämlich ist die charakteristische Eigentümlichkeit des Natürlichen und Wahren.“ [meine Hervorhebungen]

Anschließend versucht Galilei zu beweisen, dass erstens die Gezeiten unmöglich zu erklären sind unter der Annahme einer unbewegten Erde und dass zweitens die Gezeiten eine notwendige Folge der Erdrotation sind. Beide Punkte sind, wie wir heute wissen, falsch. Und selbst wenn er den zweiten Punkt hätte beweisen können, hätte er damit noch lange nicht das kopernikanische System bewiesen. Am Ende seiner vermeintlichen Beweisführung lässt er Sagredi sagen:

„Ich für meinen Teil verstehe sehr wohl, dass dieser eigentümliche Umstand sich notwendig in den verschiedenen Meerbusen geltend machen muss […].“

Auch in den Discorsi findet man zahlreiche Textstellen, die belegen, dass er die Naturwissenschaft nicht als hypothetisch ansieht. Er meint vielmehr, dass deren Lehrsätze „aus ihren ersten und unbezweifelbaren Grundlagen durch zwingende Beweisführung hergeleitet [sind]“[22]. Er spricht von „klaren und unausweichlichen Schlussfolgerungen“[23] und „unzweifelhaften Beweisen.“[24] Und geometrische Beweise in der Naturwissenschaft würden uns zu „sicheren Erkenntnissen führen“[25]. Umgekehrt findet man nirgendwo bei Galilei Textstellen, in denen er seine Theorien vorsichtig, bloß hypothetisch formuliert.

Offenbar ist Galilei eine hypothetisch verstandene Naturwissenschaft zu wenig. Sein Ziel sind unumschränkt wahre Erkenntnisse, die aus evidenten Axiomen mathematisch bewiesen werden. Daher ja auch der Konflikt mit der Kirche, die ja forderte, dass Galilei seine Theorien hypothetisch formulieren sollte, was Galilei ablehnte. So schreibt auch Walter Hehl[26]:

„Hätte [Galilei] die Problematik wissenschaftlich betrachtet [nach den heutigen Kriterien von Wissenschaft], dann wären alle Modelle nur Rechenhypothesen gewesen und es hätte keine Affäre Galilei gegeben.“

Vernunfteinsicht

Dass die Axiome wahr sind und mit der Realität übereinstimmen, wird nach Galilei dadurch gewährleistet, dass sie evident sind. Das heißt: wenn man sich ihre Bedeutung klar macht, dann sind sie der Vernunft als notwendig wahr einsichtig. Im Dialog über die Weltsysteme schreibt er:

„[…] so behaupte ich, dass der menschliche Intellekt einige Wahrheiten so vollkommen begreift und ihrer so unbedingt gewiss ist, wie es nur die Natur selbst sein kann. Dahin gehören die rein mathematischen Erkenntnisse, nämlich die Geometrie und die Arithmetik. Freilich erkennt der göttliche Geist unendlich viel mehr mathematische Wahrheiten, denn er erkennt sie alle. Die Erkenntnis der wenigen aber, welche der menschliche Geist begreift, kommt meiner Meinung nach an objektiver Gewissheit der göttlichen Erkenntnis gleich; denn sie gelangt bis zur Einsicht ihrer Notwendigkeit, und eine höhere Stufe der Gewissheit kann es wohl nicht geben.“ [27]

„Wahr und Schön [sind] ein und dasselbe, ebenso wie Falsch und Hässlich.“[28]

Auch das bereits oben erwähnte Zitat aus dem Dialog über die Weltsysteme, dass solle eher mit den geisteigen als mit den leiblichen Augen beobachten, weist darauf, wie hoch Galilei die rationale Intuition wertete[29]. Galilei glaubt auf tatsächliche empirische Versuche verzichten zu können, wenn man nur genug vernünftig genug über eine Sache nachdenkt[30]. Galilei meint also, dass man zu unumstößlich sicheren, physikalischen Erkenntnissen alleine durch Vernunfteinsicht gelangen kann, ganz ohne Bezug auf konkrete Erfahrungstatsachen.

Induktion und Gedankenexperimente

Der Weg, um zur Einsicht in die Prinzipien der Naturwissenschaft zu gelangen, ist bei Galilei, genauso wie bei Aristoteles, die Induktion. Dabei helfen konkrete Einzelerfahrungen, ein allgemein gültiges Gesetz evident zu machen. Zunächst, glaube ich, schätzte Galilei die Empirie nicht höher als Aristoteles. Beide sahen konkret erfahrbare Tatsachen als induktive Wegweiser zu den allgemeinen Prinzipien, nur dass sie bei Galilei mathematisch waren, bei Aristoteles aber nicht. Das wiederum führte dazu, dass tatsächlich die Art der Empirie bei Galilei eine andere ist als bei Aristoteles. Aristoteles orientierte sich an dem offensichtlichen, alltäglichen Augenschein, das was man ohne weiteres Hilfsmittel unmittelbar sinnlich wahrnehmen kann. Galileis quantitative Erfahrungsdaten hingegen müssen gemessen werden, d.h. sie können nur mithilfe eines Messinstrumentes, eines Zollstabs, einer Wasseruhr, eines Thermometers, mittelbar erkannt werden.

Andererseits haben quantitative Erfahrungsdaten auch große Vorteile. Mit Messdaten kann man sehr differenziert arbeiten, man kann sie gut vergleichen oder mathematisch zueinander in Beziehung setzen, und mit den erkannten Zusammenhängen kann man technisch arbeiten. Aristoteles ließ einen schweren Körper fallen, und schätzte nach dem Augenmaß ab, dass es sich wohl von Anfang bis Ende um eine konstante Fluggeschwindigkeit handelt. So sieht es augenscheinlich tatsächlich aus. Galilei hingegen versuchte genauer hinzusehen, um das quantitative Wie des Ablaufs im Detail zu erkennen.

Daneben gibt es aber bei Galilei noch eine Form der Induktion, die es in der aristotelischen Naturwissenschaft nicht gab: das Gedankenexperiment. Auf diese Weise macht er beispielsweise eine Vorform des Trägheitsprinzips einsichtig[31]:

„Salv.: […] Wenn Ihr eine ebene, völlig glatte, spiegelähnliche Fläche habt, von stahlhartem Stoffe […] und legt einen vollkommenen, kugelförmigen Ball darauf, aus schwerem, sehr hartem Stoffe […]. Ebenso möchte ich denn auch, dass Ihr von der Luft abseht, welche insofern ein Hindernis bildet, als sie dem Durchschneiden einen Widerstand entgegensetzt […]. Nun sagt mir, was mit dem nämlichen Körper auf einer Fläche geschähe, die weder abschüssig ist, noch absteigt. […] Wenn man ihm aber einen Anstoß nach irgendeiner Richtung gäbe, was würde geschehen? […] Wie lange muss demnach der Körper fortfahren sich zu bewegen? […]

Simpl.: Solange als die Ausdehnung dieser weder steilen noch geneigten Fläche vorhält.

Salv.: Wäre diese Länge also unbegrenzt, so würde die Bewegung auf ihr gleichfalls ohne Grenzen sein, d.h. ewig, nicht wahr?“

Offensichtlich kann man dieses Gedankenexperiment niemals ausführen, erstens weil es in der Realität keine vollkommen glatten und ebenen Flächen gibt. Zweitens weil keine Fläche auf dieser Welt unbegrenzten ist. Ein anderes Gedankenexperiment habe ich bereits oben erörtert, bei dem Galilei einsichtig machen möchte, dass eine beschleunigte Bewegung aus der Ruhe unendliche viele Grade von Langsamkeit durchläuft.

Nun haben alle Gedankenexperimente bei Galilei einen geometrischen Charakter, sehr häufig sind sie sogar im Text mit beispielhaften Zeichnungen versehen. Erinnern wir uns, wie man sich Axiome der euklidischen Geometrie evident machen kann. Beispielsweise das Axiom, dass durch zwei verschiedene Punkte genau eine Gerade gezeichnet werden kann. Man zeichnet zwei konkrete Punkte und probiert es aus, ob man mehr als eine Gerade durch sie ziehen kann. Sofern man eine gute Vorstellungskraft hat, kann man sich das auch vorstellen. Da Galilei die Naturwissenschaft nur als eine Art Geometrie ansieht, ist es nicht verwunderlich, wenn sich eine solche geometrische Form der Induktion nun auch in Galileis Naturwissenschaft findet.

Egal, ob man ein konkret erfahrbares Experiment ausführt oder ein geometrisches Gedankenexperiment macht, es geht bei Galilei immer darum, ein Prinzip evident zu machen, bzw. entsprechende Vernunfteinsicht zu generieren. Bezogen auf die Gedankenexperimente spricht Galilei auch von einer platonischen Wiedererinnerung; demnach verhilft ein geometrisches Gedankenexperiment dazu, sich an mathematische Strukturen zu „erinnern“, die angeblich der Natur zugrunde liegen. Letztlich verwendet Galilei hier nur ein anderes Wort für „Vernunfteinsicht“.  Aus dem Blickwinkel einer streng empirischen Naturwissenschaft sind Gedankenexperimente höchst fragwürdig. Sie umgehen ja gerade echte sinnliche Erfahrung.

Asymmetrischer Empirismus

Folgt man Karl Popper, dann sollte ein moderner Naturwissenschaftler prinzipiell dazu bereit sein, seine eigene Theorie durch Erfahrungstatsachen auf den Prüfstand stellen zu lassen. Im Extremfall gilt eine Theorie als falsifiziert, wenn sie unheilbar der Empirie widerspricht. Sieht man sich die Schriften Galileis an, dann liegt bei ihm eine solche Bereitschaft offenbar nicht vor. Galilei glaubt, all seine Behauptungen geometrisch beweisen zu können, so dass sie unumstößlich und notwendig wahr sind, eben wie die Mathematik selbst.

In Galileis Dialogen ist es immer wieder der aristotelische Simplicio, der Salviatis bzw. Galileis Theorien mit offenbar widerstreitenden Erfahrungstatsachen konfrontiert. Beispielsweise „beweist“ ja Salviati, dass ein aus der Ruhe heraus beschleunigter Körper unendliche kleinen Geschwindigkeitsgraden startet. Daraufhin sagt Simplicio[32]:

„Simpl.: […] Es soll notwendigerweise jene schwere Bleikugel von 100 Pfund Gewicht, wenn man sie von der Ruhelage aus fallen lässt, jede noch so hohe Stufe der Langsamkeit passieren, während sie doch augenscheinlich in vier Pulsschlägen mehr als hundert Ellen Wegs zurücklegt: Ein Resultat, das meiner Überzeugung nach völlig unverträglich damit ist […]“

Oder bezogen auf Kopernikus lässt er Simplicio sagen[33]:

„Simpl.: […] Diesem von allen Philosophenschulen anerkannten Kriterium zufolge sind die Sinne und die Erfahrung unsere Leiter beim Erforschen der Wahrheit. Nach der kopernikanischen Lehre aber täuschen sich die Sinne gewaltig […]“

Es gibt zahlreiche ähnliche Textstellen, bei denen sich Simplicio auf die augenscheinliche Empirie beruft, die, wie er meint, Salviatis geometrischen Naturtheorien widerspricht[34]. Hier nur zwei Beispiele:

„Simpl.: Aristoteles […] glaubte, dass die sinnliche Erfahrung vor jeder vom Menschengeiste angestellten Spekulation den Vorzug verdiene […]“[35]

„Simpl.: Sicherlich werdet Ihr niemals überzeugt oder von irgendeiner vorgefassten Meinung abgebracht werden können, dass Ihr […] sogar handgreifliche Erfahrungen und die Sinneserfahrungen selber leugnen wollt.“[36]

Und es ist immer Simplicio der einfordert, Experimente tatsächlich auszuführen, um Salviatis empirisch zu überprüfen. Galilei wiederum stellt diese Forderungen entweder als unnötig dar, weil ja, wenn man sorgfältig darüber nachdenkt, alles klar ist, oder er macht sich über Simplicios Empirismus lustig[37]:

„Salv.: Nun, da für Euch die bloße Wahrnehmbarkeit oder, besser gesagt, die wirkliche Wahrnehmung der Erscheinungen entscheidend ist, so müsst Ihr notwendig China und Amerika für Himmelskörper halten; denn zuverlässig habt Ihr dort niemals jene Änderungen beobachtet, die Ihr hier in Italien beobachtet; sie müssen demnach, soweit Eure Wahrnehmung reicht, unveränderlich sein.“

Manchmal lobt Galilei ausdrücklich, wenn man vernünftige Beweisführung über die Empirie stellt[38]:

„Sagr.: O Nikolaus Kopernikus, wie hättest du dich gefreut, durch so klare Tatsachen dein System […] bestätigt zu sehen!

Salv.: Ja, aber wieviel geringer wäre der Ruhm seiner Geistesgröße in den Augen der Sachverständigen! Sieht man doch, wich schon vorhin hervorhob, dass er seiner Behauptung stets treu blieb, bloß von Vernunftgründen geleitet, während die sinnlichen Erfahrungen das Gegenteil zu lehre schienen. […]“

Recht besehen stehen die bereits erwähnten Gedankenexperimente, die Galilei an verschiedenen Stellen vorbringt, mit der augenscheinlichen Empirie im Widerspruch. Denn es werden jedes Mal Umstände beschrieben, wie sie in der Realität mit ziemlicher Sicherheit nicht vorkommen. So ist es faktisch unmöglich, die Ebene so abzuflachen, dass die Kugel, sagen wir, zehn Jahre zum Herabrollen brauchen wird, oder gar hundert Jahre. So perfekt kann weder eine wirkliche Kugel, noch eine reale schiefe Ebene sein. Auch lässt sich das Trägheitsprinzip empirisch nicht nachweisen, indem man eine Kugel auf einer unendlich ausgedehnten, perfekt glatten Ebene rollen lässt, denn so etwas gibt es in der Wirklichkeit nicht. Das steht außer Frage. Somit ist klar, dass es sich um eine Idealisierung handelt, und Galilei tut so, als wäre die empirische Realität im Wesentlichen perfekt mathematisch. Dass es faktisch nicht so ist, ist gemäß dieser Sichtweise zu vernachlässigen.

Bezogen auf die Behauptung, dass eine Kugel eine Ebene, auf der sie liegt, eigentlich nur genau an einem einzigen Punkt berührt, lässt Galilei den aristotelischen Simplicio etwas sagen, das auch für die gerade erwähnten idealisierten Überlegungen passen[39]:

„Simpl.: Dieser Beweis trifft nur auf abstrakte, nicht auf materielle Kugeln zu. […] Materielle Kugeln sind mancherlei Einflüssen unterworfen, denen immaterielle nicht unterliegen.“

Und Salviati bzw. Galilei antwortet:

„O, alles das gebe ich Euch gerne zu, aber es ist völlig belanglos. [meine Hervorhebung]“

Mit dieser Bemerkung kommt natürlich eine gehörige Portion Anti-Empirismus zum Ausdruck, denn immerhin behauptet Galilei hier, dass seine Erkenntnisse wahr sind auch dann, wenn sie der offensichtlichen Empirie entgegenstehen.

So schreibt auch der Wissenschaftshistoriker Dijksterhuis[40]:

„Bei Galilei bleibt [das Experiment] aber manchmal hinter seiner theoretischen Funktion zurück: er empfindet es als einigermaßen überflüssig, wenn die vorangehende Argumentation sehr überzeugend scheint; es bleibt dann entweder beim Gedankenexperiment oder wird zwar beschrieben, aber nicht ausgeführt. ‚Ich habe einen Versuch darüber angestellt, aber zuvor hatte die natürliche Vernunft mich ganz fest davon überzeugt, dass die Erscheinung so verlaufen musste, wie sie auch tatsächlich verlaufen sind.‘“

Das heißt aber auch, dass Galileis Theorie niemals empirisch falsifizierbar ist. Nehmen wir nämlich an, man würde z.B. versuchen, das Gedankenexperiment zum Nachweis der Trägheit tatsächlich so gut wie möglich nachzubauen. Man kann schon jetzt sagen, dass die tatsächliche Kugel irgendwann zum Stehen kommen wird, so perfekt kann man die Versuchsanordnung gar nicht realisieren. Würde Galilei das aber als eine falsifizierende Erfahrungstatsache hinnehmen? Mit Sicherheit nicht. Vielmehr würde er sich immer darauf zurückziehen können, dass der Versuch noch nicht vollkommen genug ausgeführt worden wäre. Galilei vertritt ein Wissenschaftsmodell, das empirische Falsifikation nicht vorsieht. Das ist eine Form von Anti-Empirismus und steht im Widerspruch zur heutigen Wissenschaftsauffassung.

Andererseits beruft sich Galilei auf Erfahrungstatsachen und Experimente dann, wenn sie die eigene Theorie stärken oder offenbar mit der gegnerischen Position im Widerspruch stehen. So verweist er auf die Erfahrungen, die man unter Deck eines Schiffes machen kann, dass man nämlich anhand des Verhaltens der Dinge nicht unterscheiden kann ob das Schiff ruht oder in Fahrt ist. Dies sieht er als empirische Bestätigung seines Trägheitsprinzips[41]. Seine berühmte Versuchsbeschreibung mit der schiefen Ebene in den Discorsi[42] kann man hier auch dazurechnen.

Diese ungleiche Wertung von Erfahrungstatsachen, je nachdem ob sie die eigene Theorie bestätigen oder ihr widerstreiten, kann man als asymmetrischen Empirismus bezeichnen, der offenbar bei Galilei vorliegt. Insgesamt kann man aber konstatieren, dass Galilei rationale, geometrische Beweisführung klar über die Empirie stellt.

Fazit

Galileis Wissenschaftsverständnis ist weit von dem heutigen hypothetisch-empirischen Modell entfernt. So paradox es klingt, aber wissenschaftstheoretisch ist Galilei näher an Aristoteles als an der modernen Physik. Im Wesentlichen ist für ihn Wissenschaft dasselbe, was es auch in der Antike war. Eine apodiktische Wissenschaft, bei der am Anfang Axiome stehen, deren unverrückbare Wahrheit man durch Vernunfteinsicht erkennen kann, wobei dabei konkrete Einzelbeispiele die Einsicht erleichtern. Aus den Axiomen werden dann alle Theoreme deduktiv hergeleitet. Der einzige Unterschied ist, dass Aristoteles logisch-begrifflich deduziert, während Galilei alles geometrisch herleiten möchte. Dementsprechend unterscheiden sie sich, wie sie das Wesen der Natur auffassen. Galilei begreift die Natur ihrem als wesensmäßig mathematisch, was Aristoteles strikt ablehnte.

[1] Hehl: Galilei kontrovers, S. 279.

[2] Hehl: Galilei kontrovers, S. 291.

[3] https://scilogs.spektrum.de/die-natur-der-naturwissenschaft/ galilei-und-die-neue-wissenschaft/ vom 12.5.2019.

[4] Discorsi, S. 209 ff. Der Beweis der Fallgesetze findet sich auf S. 203 ff.

[5] Discorsi, S. 17.

[6] Galilei: Dialog über die Weltsysteme, S. 150 ff.

[7] Galilei: Dialog über die Weltsysteme, S. 150.

[8] Galilei: Dialog über die Weltsysteme, S. 152.

[9] Discorsi, S. 17.

[10] Discorsi, S. 14.

[11] Il Saggiatore, VI 232.

[12] Discorsi S. 12.

[13] Fischer [23], S.109 f.

[14] Discorsi, S. 199.

[15] Discorsi, S. 189. Meine Hervorhebung.

[16] Discorsi, Erstes Kapitel, S. 55.

[17] Dialog über die Weltsysteme, S. 219.

[18] Dialog über die Weltsysteme, S. 28.

[19] Dialog über die Weltsysteme, S. 29.

[20] Dialogo über die Weltsysteme, S. 152 f.

[21] Dialog über die Weltsysteme, S. 443.

[22] Discorsi, S, 17.

[23] Discorsi, S. 25.

[24] Discorsi, S. 31.

[25] Discorsi, S. 72.

[26] Hehl: Galilei kontrovers, S. 236.

[27] Dialog über die Weltsysteme, S. 108.

[28] Dialog über die Weltsysteme, S. 139:

[29] Dialog über die Weltsysteme, S. 150 ff.

[30] Dialog über die Weltsysteme, S. 179.

[31] Dialogo über die Weltsysteme, S. 152 f.

[32] Dialogo über die Weltsysteme, S. 32.

[33] Dialog über die Weltsysteme, S. 262.

[34] Siehe z.B. im Dialog über die Weltsysteme, S. 36, S. 43, S. 50, S. 64, S. 149, S. 180.

[35] Dialog über die Weltsysteme, S. 34; siehe auch S. 54, S. 171, S. 180.

[36] Dialog über die Weltsysteme, S. 36.

[37] Dialog über die Weltsysteme, S. 51.

[38] Dialog über die Weltsysteme, S. 354.

[39] Dialog über die Weltsysteme, S. 219.

[40] Dijksterhuis [15], IV 99, S. 384. Siehe auch den Brief von Galilei an Ingoli.

[41] Dialog über die beiden Weltsysteme, S. 162 ff., S. 198.

[42] Discorsi, S. 209-211.

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